Sobald ich den Flughafen verlasse, schlägt mir die schwüle tropische Luft ins
Gesicht. Der modrige, klebrig-süße Duft Indiens überwältigt mich aufs Neue und
löst eine Flut an Emotionen und Erinnerungen aus. Sie zeichnen ein riesiges
Lächeln in mein Gesicht. Ich bin wieder da. Endlich.
Die nächsten Tage vergrößern dieses Lächeln. Voller Bewunderung und
Begeisterung laufe ich durch die Straßen. Ich darf Indien endlich in all seinen
Farben und Formen genießen.
Ich laufe von einem Chai-Shop zum nächsten, verschlinge köstliche Biryanis,
Masala-Gerichte und Dosas, bewundere den gelben Teint der staubigen Luft, die
farbigen Saris, die glitzernden Geschäfte, die vom Monsun gezeichnete Stadt.
So nervtötend das unaufhörliche Gehupe auch ist, es hat doch musikalische
Qualitäten.
Ich sauge diese chaotische indische Übersättigung mit jeder Pore auf. Vor fünf
Jahren war das noch ganz anders.
Vor fünf Jahren wollte ich zuerst an einer Fotoreportage arbeiten und danach in
den Zug steigen, um ein paar Wochen den Süden Indiens zu bereisen.
Leicht und unbefangen. Sorglos. Mit dem Rucksack durch ein fremdes Land
ziehen; ziellos, planlos – mich einfach treiben lassen.
Von Stadt zu Stadt, Dorf zu Dorf – wie ich es nach meinem Studium schon
gemacht hatte. Doch dazu kam es nie. In den ersten Tagen nach meiner Ankunft bekam ich in einem Aschram in Pune durch Glück und durch Zufall meine HIV-Diagnose.
Nicht nur meine Pläne änderten sich – mein ganzes Leben wurde von einem
Moment auf den anderen auf den Kopf gestellt. Mit einem Schlag zerbrach es in
tausende Einzelteile.
Ich brach die Reise ab. Und durchlebte die längsten Nächte meines Lebens.
Schon beim Buchen des Fluges waren diese Erinnerungen wieder
hochgekommen. Erinnerungen an dieses andere, frühere Leben, an ein Leben vor HIV.
Und natürlich an die Tage und Wochen nach meiner Diagnose.
Der Fluch der Worte „Dein HIV-Test kam zweimal positiv zurück“. Der dicke
holländische Akzent, mit dem die Frau mir meine Diagnose mitteilte, klingt noch heute
in meinen Ohren nach. Noch immer sehe ich ihren mitleidigen Blick.
Es folgten lange schlaflose Nächte, in denen ich alles über HIV recherchierte.
Hilflosigkeit. Einsamkeit. Das Unbekannte. Werde ich sterben? Werde ich Schmerzen
haben? Werde ich noch reisen können? Kann ich Kinder bekommen? Wie erzähle ich
das meiner Familie? Meinen Freunden? Was werden sie denken? Werden sie mich
verurteilen? Werde ich mich verändern? Wird man mir ansehen, dass ich positiv bin?
Kann ich es verheimlichen? Habe ich jemanden infiziert? Wie fragt man danach?
Woher zur Hölle habe ich es? Warum ich?
Ich erinnerte mich an meine Panik, jemanden angesteckt haben zu können. Die E-
Mails, die ich in dem kleinen, lauten Internetcafé schreiben musste, die Telefonate mit
den Frauen, die ich angesteckt haben könnte, und der Trost der Erleichterung, dass
ich niemanden infiziert hatte.
Und ich durchlebte aufs Neue meine damalige Angst, nach Hause zu fliegen – in ein
Leben, in das ich nicht zurückkehren wollte. Ein Leben mit HIV.
Nach meiner Diagnose hatten sich lähmende Angst und Dunkelheit in mir
breitgemacht, die mich viele Jahre begleiten würden. Der Gedanke an Abenteuer-
Reisen rückte für lange Zeit in unerreichbare Ferne. Die Ängste und Verunsicherungen,
die eine HIV-Diagnose begleiten können, infizierten meine Psyche und stellten mich
vor zahllose Herausforderungen.
Jetzt, so viele Jahre später, wo ich unter den hypnotisch kreisenden Rotorblättern
des Deckenventilators sitze und über die Dächer Mumbais blicke, finde ich
endlich die banale Antwort auf die Frage, warum ich mich so lange vor dieser
Reise gefürchtet habe.
Aus Angst.
Ich hatte Angst, was diese Reise in mir auslösen würde. Was für Emotionen und
was für Konfrontationen hochkämen. Wie es mir gehen würde.
HIV hatte mir mein Selbstbewusstsein genommen. Hatte Zweifel gesät, die sich
auf jeden Lebensbereich auswirkten.
Jede Entscheidung, beruflich wie auch privat, wurde infrage gestellt, begleitet von
der schreienden Stimme im Hinterkopf: „Du Idiot hast dir HIV eingefangen –
warum soll ich dir bei anderen Entscheidungen vertrauen?“
Diese Endlosspirale konnte ich erst dank psychologischer Betreuung
durchbrechen. Sie half mir auch, mein Selbstbewusstsein wieder aufzubauen –
und zu lernen, mir für HIV zu vergeben.
An den Tagen vor meinem Flug werden regelmäßig Erinnerungsfetzen an die
Oberfläche gespült. Wellenartig kommen Gedanken und Emotionen aus meinem
früheren Leben in mir hoch. Erinnerungen an die Tage vor meiner Reise vor fünf
Jahren. An die letzten Tage und Wochen, in denen ich glaubte, HIV-negativ zu
sein.
Längst vergessene Szenen sind das, in denen ich mit Frauen rede, auf Partys
oder in Bars bin, aber auch Erinnerungen an die Wochen und Monate nach
meiner Diagnose. Aus dieser Flut an Emotionen sticht ein Gedanke hervor, den ich eine Zeit lang hatte, den ich vollkommen vergessen hatte, der mir heute aber einen kalten
Schauer über den Rücken treibt: Ich hatte damals den Wunsch, jemanden
anzustecken – einfach nur, damit ich nicht alleine bin.
Es ist, als ob ich Videoaufnahmen aus meiner Jugend ansähe. Eine andere Welt;
mit anderen Gedanken, anderen Gefühlen und anderen Sorgen.
Doch trotz mehrfacher Versuche, mich hineinzufühlen, schaffe ich es nicht. Und
bin erleichtert.
Der Mensch in diesem Video bin ich zum Glück nicht mehr – ich kann nicht mehr
durch seine Augen sehen, ich kann ihn nur noch aus der Ferne beobachten.
„Wahnsinn“, denke ich und schüttele den Kopf. Zum Glück liegt das alles weit,
weit in der Vergangenheit.
Vor meiner Reise hatte ich mich geistig auf eine harte Konfrontation mit meiner
Diagnose vorbereitet – auf viel Melancholisches, auf Trauer und das Schwelgen
in Erinnerungen.
Doch es kommt ganz anders. Diese Reise ist für mich eine Befreiung von den
Erfahrungen der letzten.
Vor fünf Jahren starrte ich voller Angst in eine ungewisse Zukunft und wurde mit
meinem Leben und auch meinem Tod konfrontiert. Ich wurde auf eine brutale
innere Reise geschickt, auf der ich mein Umfeld nicht mehr wahrnehmen konnte.
Heute sitze ich an derselben Stelle und nehme wahr, wie sich der Augenblick vor
mir entfaltet. Ich könnte vor Freude weinen.
Ich habe endlich verstanden, dass die HIV Diagnose meine Sinne damals
kastrierte. Was mir aufgrund meines Schockzustandes verwehrt wurde, eröffnet
sich mit jetzt.
Ich sauge den Wirbelsturm an Farben in mich auf – und verspüre ein Gefühl der
Freiheit und Erlösung, wie ich es noch nie zuvor hatte. Es kommt mir vor, als
hätte ich einen neuen Sinn entwickelt, der mir erlaubt, alles noch intensiver
wahrzunehmen. Ich habe diese Reise ins Innere überstanden – und ein bisschen
komme ich mir wie auf meiner allerersten Indienreise vor.
HIV hat mir viel genommen, doch die Konfrontation mit HIV hat mir noch viel
mehr zurückgegeben: Demut, Dankbarkeit und eine Wahrnehmung, zu der ich
vorher schlicht und einfach nicht fähig war.
Und klar: das musste in Indien passieren. Wo sonst?
Es musste in einem Land passieren, in dem das Hässlichste und das Schönste
Hand in Hand gehen. In einem Land, in dem sich radikale Widersprüche offen
zeigen und wo man in ohrenbetäubendem, chaotischem Lärm buddhistische
Ruhe und Ausgeglichenheit finden kann. In einem Land, in dem Reinkarnation
ein tägliches Mantra ist.
„Mein Leben ist schöner mit HIV“: Hier ergibt das Sinn.
Ich bin kein gläubiger Mensch. Aber dass ich mich in dem Jahr, in dem ich ohne
HIV-Medikamente vielleicht an den Folgen von Aids verstorben wäre, wie neu
geboren fühle, hat eine wunderschöne Symbolik.
Nachdem ich diesen Text abgeschickt habe, werde ich meinen Rucksack
umschnallen und durchs das Markttreiben an den farbigen Ständen
vorbeiwuseln. An den Menschen, die wie komatös auf den Boden schlafen, an
den eleganten Frauen in wunderschönen Saris, die fein verzierten Schmuck
kaufen, an den Hindu-Tempel mit den lauten Glocken, an einem Kokosnuss
Verkäufer, an den Rufen des Muezzins, an den vielen krächzenden Raben, an
Chai-Wallahs, an einer heiligen Kuh, an wundervoll duftenden Geschäften. Ich
werde über stinkende Abwasser-Pfützen hinweggehen, an den streunenden
Hunden vorbei und an den obdachlosen Kindern, die mir zuwinken und dabei
laut lachen.
Ich lache zurück. Und die Freude schmerzt.
Auf ins nächste Kapitel.
Time to make new memories.
Thank you, India.
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