Kunst gegen HIV – Einblicke in “Visual AIDS”

für die Swiss AIDS News Januar 2021

Make HIV sexy

Wie Visual AIDS mittels Kunst Krieg führt.

Gespannt blicke ich von einem Büro auf die Häuserschluchten im Herzen New Yorks. Ich warte auf meinen Termin mit dem Direktor einer Österreichischen Kulturinstitution. Nach wenigen Minuten werde ich hineingebeten.

Der Vorfreude wird rasch ein Ende gesetzt. In einem einstündigen Gespräch erhalte ich einen Eindruck davon, wie es früheren Künstler_innen und Aktivist_innen mit dem Thema Aids in Kunst und Engagement ergangen sein muss.

Ich war mit der Absicht aufgebrochen, in Zusammenarbeit mit der Kunstorganisation Visual AIDS eine Ausstellung in New York anzudenken. Nun wurde mir ziemlich schnell in nasalem Wienerisch klargemacht: «Das ist ja nichts Neues. Dazu wurde schon alles gesagt. Vor allem in der Stadt, die HIV und AIDS quasi erfunden hat!» Die arrogante Blume, die Designerbrille und das Stecktuch des Herrn Direktor vermitteln die versteckte Botschaft: «Opferkunst interessiert doch niemanden.» Und: «Man muss Kunst studiert haben, um ein Künstler zu sein.»

Als ich einwerfe: «Aber nicht aus Sicht von Heterosexuellen», werde ich sofort unterbrochen: «Es gab ja den Magic Johnson.» Was der Aids-Aktivismus eines Ex-Basketballers mit Kunst zu tun hat, weiss ich bis heute nicht. Aber es wird mir sehr schnell klar, der Herr Direktor hat nicht nur keinerlei Interesse – sondern schleudert präzise alle Klischees und Vorurteile der 1990er-Jahre in meine Richtung.

Ich wage einen weiteren Versuch: «Humor reinbringen? Eine neue Diskussion anregen?» – «Humor?! Zum Thema Tod? Bei den Amerikanern?», ruft der Herr Direktor. «Das geht doch nicht. Sie kennen sich ja gar nicht aus.» Er räuspert sich. «Als Wiener, wissens’, trag ich den Tod ja ein bisserl mit mir mit …». Offensichtlich stolz auf seine Aussage, scheint er Anerkennung zu erwarten, weil er den einen oder anderen Wiener Kabarettisten kennt oder schon einen Film mit Helmut Qualtinger gesehen hat.

Ich bin sprachlos. Gelähmt. Ein Direktor eines Österreichischen Kunstbetriebs sagt, er trage – in der Stadt, die «HIV quasi erfunden hat» – den Tod «ja immer ein bisserl» mit sich. Und das gegenüber einem HIV-positiven Menschen. Die Sätze werden mich noch Wochen begleiten.

Ohnmächtig verlasse ich das direktoriale Büro und das Hochhaus. Mit gesenktem Kopf schlendere ich durch das chaotische Manhattan. Meine Umgebung nehme ich nicht mehr wahr. Ein grauer Nieselregenschleier legt sich auf die Stadt und mein Gemüt.

Die qualvolle Stunde beim Herrn Direktor überschattet die nächsten Wochen. Und nährt Zweifel: über mich, meine Intentionen, meine Arbeit. Ich, der Bittsteller. Ich, das Opfer. Wozu mach ich den ganzen Scheiss? Interessiert doch nicht. Niemanden.

Die 1990er

Am nächsten Tag sollte ich die ersten Künstler von Visual AIDS treffen. Seit 1989 archiviert diese Organisation Kunst von HIV-positiven Künstlern. Ein Projekt, das in der Not gegründet wurde, um die Werke der sterbenden Künstler zu retten. Mittlerweile umfasst die Datenbank hunderte von ihnen. Visual AIDS ist weltweit tätig und organisiert unzählige Veranstaltungen, um Galerien und Kunstschaffende miteinander zu vernetzen.

Das grauenhafte Gespräch im Kopf, deprimiert über dessen Ausgang, quäle ich mich zum Termin im Galerien-Viertel Chelsea, wo ich ins kleine Büro von Visual AIDS geladen bin. Ein Teil von mir denkt sich «Wozu das Ganze?» Die Zweifel, die mir der Herr Direktor auf den Weg gegeben hat, wiegen immer schwerer.

Ich werde erwartet. Von älteren Herren. Nervös und skeptisch setze ich mich an den Tisch. Und fange ein lockeres Gespräch an.

Einerseits ist da Carlos. Carlos ist vieles. Künstler, Kurator, Administrator, ehemaliger Galeriebesitzer, Museumsmitarbeiter. Und Überlebender. 1989 wurde er diagnostiziert. Seither arbeitete er stets mit Themen wie Körper, Sexualität, Gender und Aids.

«‹Wir wollen keine Opferkunst›? Das wurde uns immer wieder gesagt», sagt er mit lautem, stolzen Brooklyn-Akzent. «Von Galerien, Kuratoren, anderen Künstlern. Noch heute halten manche Galerien den Status ihrer Künstler_innen versteckt, um irgendwann einen Profit daraus zu schlagen. Sie warten auf den richtigen Zeitpunkt.»

Heute ist Carlos auch im Vorstand von Visual AIDS. Voller Sarkasmus erzählt er: «Und während die Galerien uns verarschten, benutzte uns die Pharmaindustrie als Versuchskaninchen. Ich würde deren Scheiss nicht anrühren. So viele Freunde von mir krepierten so viel schneller mit deren Mitteln. Ich schaffte es, mit einer CD4-Zahl von vier durchzuhalten. Aber wenigstens habe ich ihnen keine Namen gegeben!» Er lacht und zwickt Eric, den Mann neben sich.

Eric Rhein gesteht: «Ja, ja. Bei der CD4-Zahl zwei habe ich den beiden Namen gegeben. Viel hatte ich damals ja nicht mehr …».

Carlos und Eric haben viel gemeinsam als Überlebende von Aids und der Pandemie. Sie waren von Beginn weg mit dabei. Beim Kampf, beim Aktivismus, beim Archivieren. Um die Werke ihrer sterbenden Freunde zu retten.

Eric Rhein ist ein Gründungsmitglied des Archiv-Projekts. Sein Gesicht und seine Sprache sind von damals gezeichnet. Er hat den Horror erlebt. Und er hat den uneingeschränkten Drang, die Erinnerung an die Menschen und deren Kunst zu erhalten. «Es war ein Kampf gegen die Zeit», sagt er ruhig und reflektiert. «Ein Kampf, den wir nicht gewinnen konnten. Ich wollte auch meine Werke retten, weil ich dachte, dass ich nicht überleben würde. Ich wollte nicht vergessen werden. Und ich wollte, dass meine Freunde nicht vergessen würden.»

So Ähnliches Carlos und Eric auch erlebt haben, so unterschiedlich ist ihr Zugang in vieler Hinsicht. Carlos schimpft über PreP und die ganzen «Idioten da draussen, die so unüberlegt herumvögeln». Eric ist ein Verfechter von PreP: «Wenn wir das nur damals gehabt hätten, wäre vieles anders gewesen.» Carlos will mit erhobenen Fäusten kämpfen, Eric ruhig, geduldig und überlegt. Ihre Einstellungen spiegeln sich in ihren Kunstwerken wider: in Carlos’ farbigen, provokanten Kollagen, in Erichs delikaten, intimen Fotografien.

Aber beide sind sich einig: Es war ein Kampf gegen die Zeit. Ein Rennen, um die Erinnerung aufrechtzuerhalten. Und an die Zeit, als Aids durch New York fegte.

Eric Rhein, der 1987 positiv getestet wurde, widmet sich in seiner Kunst dem Menschsein. Mit Fotografie und Skulpturen dokumentiert er auch seinen eigenen Prozess und seine Emotionen während der Krise. Während das Virus ihn langsam niederstreckte. 1996, als die ersten Präparate sein Überleben sicherten und sich sein Gesundheitszustand sprunghaft verbesserte, begann er sein Projekt «Leaves». Er kreiert Blätter aus filigranem Draht: Jedes einzelne ist einem Freund, einem Künstler, einem Kollegen gewidmet, der an Aids verstorben ist. Heute zählt «Leaves» über 300 Blätter.

«Natürlich habe ich ein paar davon gekauft!», ruft Carlos und grinst. «Es waren ja auch meine Freunde dabei!» Er wird wieder ernst: «Was hatte ich seither denn? Ich komme mir vor, als ob ich seit meiner Diagnose nie wieder gelebt habe. Sondern nur noch überlebt habe. Tag für Tag.»

«Eigenartig», sage ich zu ihm. «Mir geht es genau umgekehrt.»

Es ist schon seltsam zu sehen, welch unterschiedlichen Umgang die beiden Männer mit ihrer so ähnlichen Geschichte haben. Mit ihrer Konfrontation mit dem Tod, mit ihrem Kampf gegen die Zeit. Umgeben vom Leid, das sie doch irgendwie überlebt haben.

Wie fern Aids von meinen eigenen Erfahrungen mit HIV ist. Während des Gesprächs wird mir bewusst, dass diese Männer von etwas anderem sprechen. Von einer anderen Zeit, einer anderen Notwendigkeit und einem völlig anderen Verständnis von HIV und Aids. Und ich merke, wie notwendig Visual AIDS damals für die beiden war.

Die 2010er

Während ich mich mit Carlos und Eric unterhalte, schweigt Eugene am anderen Ende des Tischs. Bis ich versuche, mehr aus ihm herauszuholen.

«Die Förderungen und die Materialien, die Visual AIDS mir zur Verfügung stellten, erlaubten mir, weiterzuarbeiten», sagt Eugene. «Ich wurde 2012 diagnostiziert – und hätte beinahe alles, was Kunst angeht, aufgegeben. Visual AIDS hielt mich sozial am Leben. Ich fand hier nicht nur finanzielle Unterstützung, sondern auch Brücken, die die Organisation aufgebaut hatte: Austausch mit anderen Künstlern, Kontakt zu Galerien. Ich fand Verbündete, eine neue Familie. Und ein Ventil, um meine Auseinandersetzung mit meiner Diagnose weiter zu verarbeiten.»

Mit diesen wenigen Worten fasst Eugene auch mein Bild von Visual AIDS zusammen.

Eugenes Aussagen spiegeln auch meine Gedanken wider. Immer wieder, wenn ich mich mit meiner eigenen HIV-Kunst befasste, kam mir so oft der Gedanke: «Was mach ich hier eigentlich? Wer will schon so etwas sehen? Wozu?» Visual AIDS gab die Antwort: «Deshalb.» Weil man Teil etwas Grösserem ist.

Eugene verkörpert den Wandel, den es bei Visual AIDS und im Kampf gegen HIV gegeben hat, und erzählt frustriert: «Ist doch scheissegal, ob man homo, hetero, Mann, Frau, bi oder sonst was ist. Dem Virus ist das egal. Und mir gehen diese Differenzierungen auch schon auf die Nerven. Viele beurteilen deine Kunst anhand deiner sexuellen Orientierung oder deines Geschlechts. Aber nie, weil du ein Mensch mit deinen individuellen Erfahrungen bist. Hier spielt Identitätspolitik keine Rolle – hier geht es um einen gemeinsamen Feind.»

Wir können auf den Schlachten und Siegen aufbauen, die unsere Vorkämpfer errungen haben. Die ersten Medikamente waren ein Sieg, die Nachweisgrenze ebenso. Heute kämpfen wir gegen das versteckte Leben und gegen die offene Diskriminierung. Die Heilung wird auch irgendwann ein Sieg sein. Physisch, aber auch emotional.

Nach drei Stunden intensiver Gespräche verlasse ich das Büro von Visual AIDS wieder. Carlos und ich gehen noch ein Bier trinken. Ich empfinde eine eigenartige Verbundenheit mit diesen Künstlern und mit ihren Geschichten. Noch nie fühlte ich mich der Vergangenheit dieses Virus so nah. So verbunden. Mit Künstlern, die ich aus Erzählungen und Ausstellungen kenne. Sie haben nicht nur ein Gesicht bekommen, sondern auch eine Emotion. Eine Geschichte, die ich nun auch teile. Ich fühle mich verpflichtet, sie weiterzutragen. Und mutiger zu werden.

Das Gespräch mit dem Herrn Direktor hat plötzlich ein anderes Gewicht bekommen. Die Zweifel, die am Vortag gesät wurden, haben sich in Wut verwandelt. Und in einen Schaffensdrang. Machen. Schreien. Zeigen. Verändern.

Niemanden interessiert HIV mehr. Wie oft wurde mir schon gesagt: «HIV zieht einfach nicht als Thema.» Im Verlagswesen, in Redaktionen, in der Kunst, sogar bei öffentlichen Förderstellen. «HIV kennen wir schon. Haben wir alles schon gehört. Ist ja nichts Neues» Es ist den Leuten scheissegal – ausser, es ist gerade Welt-Aids-Tag.

Und irgendwie kann ich es ja auch verstehen. So wie HIV seit zwanzig Jahren dargestellt wird, ist es tatsächlich oft dasselbe. Eine tränenreiche Opferstory, untermalt mit krampfhaft optimistischen Melodien. Sogar mich als Positiven kotzt diese Darstellung schon gewaltig an.

Und daran erinnern mich Carlos und die anderen Künstler von Visual AIDS. Die Bilder aus den 80ern und 90ern sind schlichtweg veraltet, werden aber weiterhin fleissig benutzt.

Seit Jahren gestalte ich Ausstellungen. Ausstellungen über Intimität, Sexualität, Mut. Sex, Drugs, Rock ’n’ Roll. Häufig, ohne HIV konkret zu thematisieren. Trotzdem kann ich es einbinden. Mit Zynismus, Dramatik oder Humor flechte ich Kunst und Texte über HIV in diese Themen ein. Damit versuche ich, HIV auf andere Art und Weise sichtbar zu machen.

Weil wir alle neue Wege finden müssen. Wir sind nicht mehr in den 1990ern. Oder in Osteuropa. Oder auf dem afrikanischen Kontinent. Wir haben keine Schlachten zu schlagen, in denen es um Leben und Tod geht. Um CD4-Zahlen, zwei oder vier Zellen.

HIV interessiert tatsächlich sehr wenige Leute. Warum sollte es das? Deshalb ist es unsere Aufgabe, dies zu ändern. Wir haben neue Themen zu diskutieren, neue Schlachten zu kämpfen, neue Überzeugungsarbeit zu leisten. HIV braucht ein neues Narrativ. Ein neues Image.

Es liegt an uns, HIV wieder sexy zu machen.

Visual AIDS Website