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“Kann ich dir sicher nichts mehr bringen? Noch einen Tee?”
“Nein … nein, danke. Ich will einfach nur schlafen.”
Victoria liegt fiebrig im Bett, sie ist grippig, erschöpft. Bevor ich mich an dem lauen Frühlingsabend auf den Heimweg mache, decke ich sie noch mal zu. “Wenn es etwas gibt, was ich machen kann, meld dich einfach …”
“Jaaa. Mach ich. Jetzt geh …! Ich will Ruhe …” Sie winkt mich weg. Döst weiter.
Ich schleiche mich aus ihrer Wohnung. Auf dem Heimweg fange ich an, langsamer zu gehen. Bis ich plötzlich anhalte. Ein eiskalter Schauer zieht sich über meinen Rücken. Gänsehaut. Ein grauenhafter Gedanke manifestiert sich.
Kann es sein, dass ich sie angesteckt habe?
Kann ihre Grippe nicht auch HIV sein?
Ich bekomme Zweifel. Zweifel an meiner Aufklärung. An der Nachweisgrenze. Zweifel an den vielen Gesprächen mit meinen Ärztinnen. Ging es mir damals nicht genauso dreckig wie ihr gerade? Kann es sein, dass ich doch nicht so sicher bin, wie ich es immer gedacht habe? Kann es sein, dass die Medikamente doch nicht so gut sind wie behauptet?
Victoria und ich sind schon seit einigen Monaten zusammen. Sie wusste von Anfang an von meiner HIV-Diagnose. Ihr machte es nie etwas aus. Ganz im Gegenteil, das erste Mal, als ich es ihr erzählte, lachte sie nur und meinte: “Du weißt eh, dass dich das gerade viel interessanter macht?” Nach ein paar Monaten beschlossen wir, auch Sex ohne Kondom zu haben. Den Schritt hatte ich mich vorher lange nicht getraut, obwohl wir fest zusammen waren. Oder wollte ihn einfach nicht gehen. Obwohl ich nicht ansteckend bin.
Kurz nach meiner Diagnose 2014 hatte ich die antiretrovirale Therapie angefangen. Ein paar Wochen später war ich unter der Nachweisgrenze. Seitdem: eine tägliche Pille, Kontrolluntersuchungen alle drei Monate.
Bis heute waren das mehr als 2.460 Tage und mehr als 2.460 Pillen. Jeden Tag um elf Uhr läutet mein Alarm. Noch nie habe ich eine vergessen. Bei jedem Arztgespräch wird mir versichert: Du bist sicher. Du kannst ungeschützten Sex haben, ohne das Virus weiterzugeben.
Jetzt auf einmal bin ich mir nicht mehr sicher, ob das tatsächlich so ist.
So viele Jahre beschäftige ich mich jetzt bereits mit der Nachweisgrenze und all diesen verwandten Themen. Als HIV-Positiver habe ich immer das Gefühl, dass ich das Virus in- und auswendig kennen muss, alle Fakten jederzeit griffbereit. CD4-Zellen, Swiss Statement, … Das Los des Positiven ist es, nicht nur stets meine Medikamente dabei haben, sondern auch einen Schrank an HIV-Infos.
Ich hatte gedacht, dass diese Fakten auch in meinem Bauchgefühl verankert sind. Dass ich mich sicher fühle.
Die ganze Nacht wälze ich mich im Bett. Meine Gedanken rasen unkontrolliert von Worst Case zu Worst Case. Eine schwere Schuld und ein erdrückendes Gewissen brüllen mir im Kopf zu:
Hab ich sie angesteckt?
Hätte ich doch auf Kondome beharren sollen?
Wie konnte ich das zulassen?
Wie konnte ich jemanden, der mir so wichtig ist, so einer Gefahr aussetzen?
Jemanden, den ich liebe, so nahe an dieses fürchterliche Virus bringen?
Warum habe ich nicht besser aufgepasst?
Wie konnte ich mich nur so gehen lassen?
Was kann ich ihr sagen?
Wie wird sie reagieren? Wird sie mich jetzt verlassen? Für immer hassen?
Am nächsten Tag wache ich erschöpft auf. Die Panikattacke hat sich gelegt. Die Gedanken und der Puls sind niedriger. Aber die Gedanken kleben weiter in mir drinnen. Ich rufe Victoria an, fahre am Morgen zu ihr und erzähle ihr von meinen Sorgen.
Noch ein wenig fiebrig, aber schon mit mehr Kraft als am Tag davor sitzen wir auf ihrem Bett. Verschlafen und wunderschön lacht sie es weg. “Geh bitte. Du nimmst jeden Tag deine Medikamente. Du weißt das doch besser als ich.” Sie ist ruhig, besonnen, gelassen – so wie ich es sein sollte. Ich weiß, dass mein eigenes Verhalten sie in Panik versetzen könnte, dass meine Angst ansteckend sein könnte. Dass ich mich zusammenreißen muss. Und doch erzählt mir diese bezaubernde Frau alles, was ich ihr erzählen sollte.
Alles, was für mich eigentlich selbstverständlich geworden war, wurde in den letzten 24 Stunden infrage gestellt. Weil ich mich noch erinnere, wie es sich anfühlt, wenn das Virus angreift. Wie schwach, wie elendig, wie tot ich mich gefühlt hatte. Was für ein Trauma die Diagnose ausgelöst hatte; in meinem Leben und meinem Umfeld. Ich brauche den Beweis. Ein paar Tage später hole ich einen Selbsttest aus der Apotheke.
Als Victoria sich in den Finger pikst und das Blut auf das kleine Plastikteil gibt, weiß ich es plötzlich. Ein noch nie empfundenes Bauchgefühl ist da. Der Test wird negativ sein. Es ist das Einzige, das Sinn ergeben würde.
“Siehst du?”, sagt sie, als sie mich mit ihrem strahlendem Lachen anblickt.
“Negativ!”
Und wir küssen uns. Erleichtert, erlöst.
Ich bin im Rausch, mein Bauchgefühl ist endlich da. Der Augenblick ist der letzte Beweis, den ich gebraucht habe. Nicht nur die Fakten zu wissen – sondern sie auch zu spüren.
Zu wissen: Ja, ich bin ein sicherer Sexpartner. Ohne Sorgen. Ohne Schuld. Ohne schlechtes Gewissen. Und das nicht nur auf dem Papier.
Mein Leben in paranoider Selbstzensur – wie viel darf jemand wissen? Wie viel darf ich wem erzählen? Erzählt er oder sie es eh nicht weiter? – es erscheint mir plötzlich so lächerlich.
Genau wie diese Anstrengungen, die ich deshalb unternommen hatte. Ich hatte mir das Pseudonym “Philipp Spiegel” zugelegt; zusätzliche Websites, Emails und Instagram-Accounts erstellt.
Anstatt mich zu verstecken, will ich mich zeigen.
Weil, wenn ich es nicht tun kann, als weißer heterosexueller, westeuropäischer Mann – wer soll es dann tun? Trotz HIV habe ich das Privileg, keine Diskriminierung zu erfahren. Ich passe nicht in die Schatulle der üblichen abwertenden HIV-Beschimpfungen: “Hure, Junkie oder Schwuchtel”.
Und wenn man mich doch diskriminieren will, kann ich mich endlich wehren. Meine Angst kann nicht mehr gegen mich benutzt werden.
Victoria und ich trennen uns ein halbes Jahr später in Freundschaft. Diese Erfahrung der Angst und der Erlösung verbindet uns bis heute.
Ich bin zurück in der Singlewildnis; aber diesmal mit einer ganz anderen Attitüde. Die Auseinandersetzung mit HIV und den Konsequenzen trage ich jetzt stolz vor mich her.
Mein Selbstbewusstsein ist riesig, aber nur, weil ich mich mit HIV wohlfühle, tun das andere noch lange nicht. Das Unwissen über HIV und die Nachweisgrenze schockiert mich immer wieder. Die Bandbreite an Reaktionen ist groß.
Auf der einen Seite des Spektrums:
“Das kann man schon durchs Küssen bekommen oder?”
“Da hätt’ ich ja lieber Krebs …”
Auf der anderen Seite:
“Na und?”
“Spannend! Wie ist das so? Erzähl mir mehr.”
Es ist anstrengend. Jedes Mal muss ich diesen Schrank an HIV-Informationen mitschleppen und mich auf Aufklärungsgespräche vorbereiten. Immer wieder stehe ich vor dem Glücksrad, nervös, und versuche herauszufinden; “Wie wird sie reagieren? Wie soll ich ihr davon erzählen? Soll ich es überhaupt erzählen?”
Und das nicht nur beim Dating.
Jedes Mal, wenn ich über meine Arbeit, spreche, dreht sich das Glücksrad erneut – und mit jedem Mal kommt die Befürchtung vor Unwissen, vor Dummheit, vor Ignoranz, vor Verschwörungstheorien und vor angsterfüllten Augen – und davor, auf HIV reduziert zu werden.
Ich sehe die Kleinigkeiten, die skeptischen Blicke auf mein Besteck und Glas beim Essen, den heimlich erschlichenen größeren Abstand zu mir.
Manchmal denke ich mir, dass ich Aufklärungsutensilien wie im Schulunterricht stets mithaben sollte. Weil es anstrengt, stets bei Null beginnen zu müssen, immer bei “der Unterschied zwischen HIV und Aids …” . Bei “nein, man kann es nicht durch Speichel oder Umarmungen bekommen” und “nein, es wurde nicht in einem Labor gezüchtet”.
Nichtsdestotrotz muss ich die Ängste auch verstehen können. Ich darf die Unwissenheit der anderen nicht verurteilen. Und so schützt das Kondom mich und meine Partnerinnen nicht nur vor Krankheiten, es ist auch ein psychologischer Schutz. Wenn sich das Wissen bei mir, der sich jeden Tag mit den Themen beschäftigt, erst nach Jahren zum Bauchgefühl wandelt – wie soll es jemandem gehen, der einmal im Jahr einen anlassbezogenen Weltaidstag-Artikel liest? So wie diesen hier.