HIV und Online-Dating

Ein Freitagabend, ich sitze mit Freunden in einer gemütlichen kleinen Bar im Herzen Barcelonas. Der Wein fliesst, die Diskussionen laufen heiss, da erspähe ich am anderen Ende der Bar eine schöne Frau mit Rehaugen, Winona Ryder aus dem Gesicht geschnitten. Wie hypnotisiert hole ich tief Luft, da erwidert sie meinen Blick und lächelt. Ich lächle zurück.

Dies geht die nächste Stunde so hin und her. Meine Freunde merken, dass ich nicht mehr bei der Sache bin. Ich bin angespannt, nervös.

Soll ich rübergehn?

Etwas sagen?

Aber was?

Was wäre ein guter erster Satz?

Und wenn ich stottere?

Oder kein Wort rausbringe?

Ein wilder Schwall von Fragen schiesst mir durch den Kopf, während das Spiel unserer Blicke weitergeht. Der Abend nimmt seinen Lauf. Mein Spiel heisst: Aufmerksamkeit schenken, Aufmerksamkeit entziehen. Sie ein Weilchen ignorieren, dann wieder beachten. Nach einer halben Stunde raffe ich endlich meinen ganzen Mut zusammen … und tue überhaupt nichts.

Sie ist weg.

Hat sich davongemacht. Ich hab sie nicht mal rausgehen sehen. Einmal mehr hat mich mein Mut im Stich gelassen. Einmal mehr verfluche ich mich für meine Feigheit. Weshalb schaff ich es, öffentlich über wirklich intime Details aus meinem Leben reden, einer HIV-Infektion etwas Positives abgewinnen – aber in einer Bar eine Frau anzusprechen, das geht verdammt noch mal nicht?

Was zum Teufel ist los mit mir?

Die Macht der Angst vor einem Nein ist grauenhaft.

Doch das war nicht immer so. Niedergeschlagen und ziemlich ramponiert beschliesse ich, den Stier bei den Hörnern zu packen. In der Hoffnung, sie auf Tinder zu finden, öffne ich die App und beginne mich durch all die unzähligen künstlichen Lächeln zu wischen.

Diese App und all die anderen ihrer Art haben mich verändert. Mein Verhalten verändert. Sie bieten mir ein Versteck, einen Schutzschild. Sie machen es mir einfach, mich vor jeder Form von echter Konfrontation zu drücken. Und sind zu einer Quelle der Einsamkeit geworden.

Sie haben mich unsicherer und schüchterner gemacht als je zuvor.

Statt mit einer Frau zu reden, flüchte ich mich in die absolute Oberflächlichkeit: wische nach rechts, wische nach links.

Statt eines Blicks in Augen und auf ein Lächeln dieses tote, hoffnungsvolle Starren auf das Display.

Statt die Bewegungen, Gesten und Gesichtszüge einer Frau zu betrachten, sehe ich mir auf dem Screen gephotoshopte Gesichter an.

Statt der ersten Witterung ihres Dufts – den unbewussten, unbekannten Gesetzen der Anziehung gehorchend – eine Yogastellung bei Sonnenuntergang, mit Softfilter.

Offline ist die Welt grässlich schön. Und schön hässlich. Selbst wenn man sich in einem Club, wo nervtötend laute Musik jedes Gespräch verunmöglicht, begegnet, wird jemandes Bewegung, Ausdruck, Anmut (oder deren Fehlen) sichtbar. Man kriegt nicht nur ein halb gefaktes Standbild. Mir ist zwar klar, dass diese Apps mich manipulieren, mich in ihren Bann zu locken versuchen, aber dem zu widerstehen fällt nicht leicht.

Deshalb werde ich jedes Mal, wenn ich sie aufrufe, wütend auf mich. Wie kann ich mich hier präsentieren, wenn ich gegen den Dopaminkicks auslösenden Algorithmus antreten muss? Ich bin nicht wirklich fotogen, und gut 300 Zeichen sind zu wenig, um Komplexität anzupreisen: Mein Erfolg auf diesen Apps hielt sich bisher in Grenzen.

Keine Katastrophe, aber wenn ich mit meinen früheren, realen Matchs vergleiche, komme ich bei den Damen, die mir von den Apps vorgeschlagen werden, markant schlechter an. Im richtigen Leben kann ich mein Mittelmass wenigstens aufwiegen.

Anstelle von 300 Zeichen kann ich Selbstvertrauen zeigen und Geschichten erzählen. Kann jemand zum Lächeln oder zum Lachen bringen, kann Interesse wecken. Aber nicht, wenn ich diese Apps verwende. Also beschliesse ich, einen letzten Versuch zu unternehmen – und Farbe zu bekennen.

Nehmen wir das Ganze doch etwas sportlicher. Also formuliere ich mein Profil um: «Sex-Kolumnist und HIV-positiver Aktivist…» Ich oute mich mit HIV, mache mich in der weiten Onlinewildnis klar sichtbar.

Ich wische, ich warte. Und warte. Und warte.

In Wien warte ich etliche Tage, bis ich den aussichtslosen Versuch mit einem «scheiss auf diese Stadt» abbreche. Über die Asexualität dieser grauen Stadt könnte ich Bände schreiben. In Barcelona brauche ich nur wenige Minuten zu warten. Die Vorschläge kommen langsam, aber stetig herein. Ich halte mich vorerst an Bumble (wo Frauen den ersten Schritt machen müssen) und merke: Ihre Originalität in Sachen «erster Satz» entspricht ziemlich genau der den Männern oft angekreideten Lahmheit.

In der ersten Woche erhalte ich drei «Hey», zwei «Hi» und ein «Hallo!», ein «echt interessante Arbeit» und zwei Vorschläge für Bumble-Fragen wie «Was ist dein Lieblingssong?» oder «Bist du ein Hunde- oder Katzenmensch?», die ich mir augenblicklich zu ignorieren erlaube.

Und dann ging das Spiel los. Während ich im Lauf der folgenden Wochen mehrere Dates vereinbarte, versuchte ich das Chatten auf einem Minimum zu halten. Ich schau lieber jemandem in die Augen als auf das verdammte Display. Und dass ich mit meinem Leben so transparent umging, diesen Frauen meinen Blog zu lesen gab, zahlte sich aus. Dass sie deshalb meinen HIV-Status kannten? War ihnen egal. Im Gegenteil, damit stach ich aus der Menge der brav lächelnden Gesichter hervor.

Wenigstens für die paar Frauen, die mir vorgeschlagen wurden. Das erste Date ging über mehr oder weniger Oberflächliches leider nie hinaus. Ihre Profilbilder waren alles andere als Real, die Konversation verlief nett, aber hölzern, von sexueller Anziehung keine Spur. Doch nach dieser wurde es spannend.

Bei den nächsten Dates erwiesen sich mein offengelegter Status und mein Blog über Sex und Sexualität als gemeinsamer Nenner. Das Gespräch ging vom oberflächlichen «Was machst du so?» sogleich eine Stufe höher: «Was machst du gern im Bett?».

Tiefe, Intensität und ein Kribbeln waren von Beginn weg vorhanden. Mir wurde klar: Dass ich offen und selbstbewusst über meine Verletzlichkeit sprach, hatte seine Wirkung. Ich bekam einen Vertrauensvorschuss, den ich nicht missbrauchen durfte.

«Komisch», sagte M., «bei all diesen Dates bist du der erste Typ, dem ich offen sagen kann, dass ich keinen Orgasmus haben werde, wenn wir Sex haben – und ich fühle mich wohl dabei. Es braucht einfach so einiges, bis ich komme. Viele Typen sind beleidigt, wenn ich das sage.»

«Das macht richtig Spass», sagte J., «mit dir kann ich wirklich offen sein.»

«Gehen wir noch bei einem Sexshop vorbei?», sagte C. «Nächstes Mal könnten wir uns doch in einem Sexclub verabreden!», sagte F.

Dass ich meinen Status offenlegte, verlieh mir eine von zwei Rollen: Entweder war ich 1. der Sexpartner, mit dem man sich völlig entspannen und Spass auch an allerlei Unanständigem haben kann. 2. die Heteroausgabe des schwulen Best Friend, den man über alles, was man bei früheren Dates erlebt hat, ins Vertrauen ziehen kann.

Natürlich zog ich die erste Rolle vor, aber die zweite war ebenfalls ziemlich aufschlussreich. Die App-Dates, die zu Sexdates wurden, waren wild und aufregend. Genussvoll wurde der Körper und viel Intimes erforscht – manchmal sogar ohne Penetration. Oralsex, Ass-Play, zungenbrecherische Orgasmen. F. holte unter ihrem Bett eine Schachtel mit Sextoys hervor, zeigte mir Geräte, von denen ich noch nie gehört hatte, und gab mir die Chance, ein paar von ihnen auf ganz fabelhafte Arten auszuprobieren.

M. sah mich überrascht und fasziniert an, als ich ihren herrlichen Arsch zu massieren begann – neugierig und gespannt auf zarte Empfindungen, auf die sie sich noch nie eingelassen hatte, wenige Augenblicke später kichernd und stöhnend vor Erregung.

Schweisstriefende, saftige Stunden, keuchend vor Erschöpfung und lustvoller Befriedigung. Zungen und Finger, die alle Rundungen und Falten des Körpers erforschten. Die Freude von zwanglosem Sex.

Genau das war es. Wundervoller, sinnloser Sex. Aber auch nicht mehr.

Wenn ich die Wohnungen dieser Frauen wieder verliess, kam ich mir manchmal wie ein Gigolo vor, der von einer Kundin kommt. Hier gab es kein Spiel. Kein Flirten. Es gab sexuelle Verbundenheit, aber keine emotionale. Es gab zwar immer ein erstes Mal – aber ohne die Neugier und das Herzklopfen jener anderen ersten Male.

Wenn man verknallt ist.

Wenn es um mehr geht.

Nie gab es jene Gefühlsanspannung, den Moment, in dem man all seinen Mut zusammennimmt und denkt: «Wenn ich es ihr jetzt nicht sage, bereue ich es für den Rest meines Lebens.»

Mit den Apps konnte jederzeit schon das nächste Date vor der Tür stehen. Plötzlich vermisste ich das überschwängliche Gefühl, wenn man seine grauenhafte Angst vor einem Nein besiegt: «Auch wenn ich einen Korb kriege – ich hab’s versucht und bin mit hoch erhobenem Kopf gescheitert.»

Apps helfen dir nicht, deine Angst zu besiegen.

Sie ermöglichen es, dass du von ihr verschlungen wirst.

In den Nächten nach solch wundervollen Sexdates genoss ich meine Dates als «Vertrauter». Wo ich eine Art Therapeut war. Zu erklären versuchte, weshalb Männer sich auf Dates dämlich verhalten. Fassungslos war über einige solcher Schwachköpfe.

Mich beim Gedanken ertappte, dass ich mich auch schon so bescheuert verhalten hatte. Ziemlich unschön, was da draussen so alles abgeht. Diese Rolle war nett. Aber ich suchte keine besten Freundinnen. Oder Patientinnen.

Zwei Monate nach diesem Experiment löschte ich alle Dating-Apps. Die Unbeschwertheit und die Leere würden mir fehlen, aber es nervte mich zu sehr, dass ich dauernd am Handy klebte. Ich musste aus diesem Teufelskreis raus. Ich kam mir wie ein Süchtiger vor – ich brauchte die Bestätigung von einem Match.

Ich vermisste das Gefühl. Die Spannung. Den Nervenkitzel. Aber ganz so einfach ist das nicht mehr. Die Leute starren nur noch hypnotisch auf ihre Touchscreens. Auf der Strasse, in der U-Bahn, in Cafés und Bars – und ich bin da keine Ausnahme.

Jeder Life-Coach, jedes Selbsthilfebuch predigt verdammt noch mal, wir sollten «achtsam» sein, «im Hier und Jetzt» leben – aber keiner ist es.

Wir achten nicht mehr auf das, was uns umgibt. Ein Blickwechsel mit einer Frau im Zug ist nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. In der Öffentlichkeit zu lächeln und zu flirten ist selten geworden. Wie kann ich auf eine Frau zugehen, die auf ihr Handy starrt?

Vermutlich liegt darin eine neue Herausforderung. Asoziale Medien haben uns alle zu Zombies gemacht. Dating-Apps sind nur ein Teil des Problems.

Heute versuche ich in der U-Bahn keine Musik zu hören.

Keine SMS zu checken, und schon gar kein kindisches Game zu spielen.

So sind einige der besten Sätze in diesem Text entstanden. Indem ich gelangweilt ins Leere starre. Indem ich Menschen im Zug beobachte.

Ihre Gesichter, ihre Mimik, ihre Narben.

Ich will eine Geschichte haben. Ich will erzählen können; «Sie beschloss mich anzusprechen…» oder «Ich gab mir einen Ruck und sprach sie an», oder «Wir begegneten uns im…›. Nicht ein «ich wischte nach rechts».

Bei der nächsten Gelegenheit wage ich es. Mein Mund wird trocken, ich spüre, wie ich zu schwitzen beginne. Mein Herz schlägt schneller. Ich werde nervös, als ich auf die schöne Frau in der Galerie zugehe.

Ich stolpere über Wörter, lächle, biete meinen Charme auf. Sie lächelt zurück, wir kommen ins Gespräch. Zögernd frage ich: «Darf ich dich auf einen Drink einladen? Oder vielleeeicht auf ein Abendessen … oder einfach ein Eis?» Sie lächelt freundlich.

Wir sehen uns in die Augen. «Hmm.» Ich halte den Atem an, hoffe auf Erlösung.

«Nein. Sorry. Aber danke für die Einladung.»

«Kein Problem. Ich musste dich einfach fragen.» Ich lächle zurück.

Verdammt.

Ein Fehlschlag zwar, aber ich bin stolz. Ich hab’s getan. Und ich fühl mich gut dabei. Das ist mir ein paarmal so ergangen. Wer den Mut aufbringt, muss Rückschläge einstecken und Ausdauer haben. Aber ich bin fest entschlossen. Allmählich merke ich, dass ich anders kommuniziere. Ich flirte wieder. Ich bin wieder selbstbewusst. Ich bin bereit, Frauen in Bars anzusprechen. Ich bin kontaktfreudiger, glücklicher, verbindlicher.

Eine Woche nachdem ich die Dating-Apps gelöscht habe, sitze ich zuhause und lese, während ein Sturmregen gegen meine Fenster prasselt. Leicht gelangweilt sehe ich mein Handy an.

Wie Sirenengesang lockt mich die Langeweile zum App-Store.

Mein Dopamin will Nahrung.

Mir ist nach Sex.

Nach Flirten.

«Soll ich noch raus? Nicht bei dem Regen. Regen, und dann die Wahrscheinlichkeit, dass es ein höfliches Nein gibt. Dass mein Mut einen Dämpfer erhält. Es ist ja eh nicht leicht, mit Fremden ins Gespräch zu kommen. Bei diesem Wetter geht ohnehin niemand raus. Da müsste ich jetzt meinen ganzen Mumm aufbringen. Viel Energie …» All die Ausreden eines Süchtigen.

Ich wende den Blick ab. Weise mich zurecht. «Nein! Nein! Nein!» Fünf Minuten später höre ich den Lockruf erneut.

Der Reiz der App kehrt zurück.

Also gut, okay.

Ich lade die App runter.

Fülle das Profil aus. Fange an zu wischen.

Die Nadel ist drin. Der Schuss sitzt.

«Nein!», brülle ich.

Nach ein paarmal Wischen lösche ich die App wieder.

Fuck.