Für die Swiss Aids News (SAN) Nummer 2, 2020, hier zum Download:
https://aids.ch/de/was-wir-tun/publikationen/swiss-aids-news/
Ich steh einer guten Freundin gegenüber. Ein paar Meter trennen uns voneinander. Die Strasse ist menschenleer, die Sonne strahlt, und ein Hauch von Frühling weht durch die Gassen. Wir schauen uns ein wenig perplex an.
«Äh … wie jetzt?» Wir kichern, verunsichert darüber, wie wir uns verhalten können oder sollen. Ihre Augen lachen – der Rest ist hinter ihrer Maske versteckt. Es war eine lange Zeit der Einsamkeit. Geprägt von den strengen spanischen Quarantäne-Vorschriften, aufgrund derer ich die Wohnung lediglich zum Einkaufen verlassen durfte, einem eigenartigen Repatriierungsflug nach Wien sowie zwei weiteren Wochen Selbstisolation, wo ich nicht mal zum Einkaufen hinausdurfte.
Nach diesen drei Wochen ist eine persönliche Begegnung etwas Eigenartiges geworden. Wie sehr habe ich den Blick in vertraute Augen herbeigesehnt, wie sehr menschliche Nähe vermisst – doch nun ist es auf einmal sehr ungewohnt. Den gelockerten Social-Distancing-Massnahmen zum Trotz haben wir uns verabredet, um uns zu sehen, und es fühlt sich unnatürlich an. Anfangs erinnert es mich an erzkonservative Riten einer schnöseligen Tanzschul-Etikette. Es fehlt nur noch die grosse viktorianische Verbeugung meinerseits und ihr dazugehöriger Damen-Knicks – oder ein Hut zum «edlen Gruss aus der Ferne». Schön theatralisch!
Da ich zum Teil in Spanien lebe, ist für mich nicht nur eine Umarmung selbstverständlich, sondern auch eine ausdrucksreiche Körpersprache. Wangen-Bussis hin und her, mua! und mua!, ein physischer Kontakt im Gespräch, eine Berührung am Arm. Aus Liebe oder zum Trost oder einfach, um Nähe und Vertrauen zu vermitteln. Kommunikation, insbesondere wenn sie freundschaftlich und intim ist, ist mehr als nur Sprache. Berührungen sind für mich essenziell, grosse Gestik ist alltäglich geworden – zum Leid manch umgestossenen Glases.
Meine Arme sprechen mehr als meine Worte, meine Berührungen untermalen meine Geschichten. Das Maskentragen verstärkt unsere Verunsicherung – die Augen allein sind zwar ausdrucksstark, aber die Mimik ist hinter Stofffetzen verborgen. Lautes Reden und Lachen sind verpönt, von den Masken gedämpft. Und jetzt stehe ich wie gelähmt da und weiss nicht, was ich darf. Wie ich darf. Heimlich schleichen wir uns in einen Hauseingang. Geschützt vor denunzierenden Blicken, umarmen wir uns innig.
Viel länger als früher. Ein eigenartiges Gefühl, wieder den Körper eines anderen Menschen zu spüren. Das lange Ein- und Ausatmen. Die Wärme des anderen Körpers. Mein CoronaBäuchlein gegen ihres. Strafbare Handlung? Ich frage mich, wann die ersten Rufe aus der Vergangenheit wieder laut werden: «Menschen, die ihre Triebe nicht zurückhalten können, verdienen dieses Virus! So etwas Verantwortungsloses!» Rufe, die ich immer wieder in Kommentarspalten meiner Artikel über HIV lesen darf. Gleichzeitig muss ich an kitschige Liebesschnulzen denken – an verbotene Liebe, bei der man ein Geheimnis daraus machen muss, sich treffen zu wollen.
An spätabendliches Hinausschleichen, auf der Hut vor fremden Blicken, geheime Liebschaften, ganz nach Shakespeare. Zum Lachen!
Wir beschliessen, durch die Stadt zu spazieren, aber uns fehlt es an Lockerheit. Immer wieder werden meine Gedanken gestört, immer wieder muss ich mich auf dieses unnatürliche Abstandhalten konzentrieren, immer wieder die legale oder illegale Distanz berechnen. Ich bin näher als erlaubt, aber zu weit weg, um über Intimes zu reden. So lässt sich kein Gespräch führen.
Ich würde ja mehr Nähe wagen, aber wie sie wohl darauf reagiert? Und was, wenn sie auch andere umarmt hat? Wie hält sie es mit Sicherheitsabständen und Maskentragen? Hat sie sich an die Regeln gehalten? Und wenn ich sie frage, fasst sie es als Anschuldigung auf?
Sie erzählt mir von einem Date, das sie während der Quarantäne hatte. Da werde ich erst recht misstrauisch – und ärgere ich mich sogleich über meinen Verdacht. Ich müsste es doch besser wissen. Aber einer Freundin sollte ich doch korrektes Verhalten zutrauen können. Darauf vertrauen, dass sie sich der Situation bewusst ist.
Wem und wie vertrauen? Ausgerechnet ich. Erwarte ich von andern nicht genau diesen Vertrauensvorschuss, wenn es um HIV geht? Um mein sexuelles Verhalten? Dass ich jeden Tag meine Medikamente nehme? Ich schäme mich ein wenig für all diese Zweifel. Das eigentliche Gespräch ist längst in den Hintergrund gerückt. Und ich? Bin ich keine Gefahr für sie? Wie habe ich es denn mit den Abstandsregeln gehalten? Habe ich andere umarmt? War ich jemandem zu nah?
Ich spiegle meinen Verdacht: Genauso skeptisch könnte sie mir gegenüber sein. Eine Unnatürlichkeit macht sich in unserem Verhalten breit. Nicht nur zwischen mir und meiner Freundin. Verlieren wir alle momentan ein Grundvertrauen? In uns selbst und in unsere Mitmenschen? Wir sind diesem Virus und seinen Konsequenzen ausgeliefert, und müssen uns an so viel Neues gewöhnen. Mit dem Virus grassieren Zweifel, Unsicherheit, Schuldgefühle. Jedes Räuspern ist verdächtig. In der U-Bahn halte ich ein Husten zurück – sonst werde ich gleich böse angesehen. Warum hält dieser Fahrgast die zwei Meter nicht ein? Soll ich etwas sagen? Hält er mich dann für einen Spiesser oder einen Angsthasen? Erzähl ich von meinem trockenen Husten? Oder machen sich meine Eltern zu viele Sorgen, wenn ich ihn erwähne? Werden sie gar Angst vor mir haben? Mir kommt das alles sehr bekannt vor.
Vor sechs Jahren fragte ich mich ununterbrochen: Wem erzähl ich von meiner HIV-Diagnose? Werden sie sich zu viele Sorgen machen? Bin ich tatsächlich ein sicherer Sexpartner? Wie sehr kann ich mir vertrauen, wenn die Gefahr unsichtbar ist? Wie werden andere auf mich reagieren? Muss ich es sagen, auch wenn ich nicht ansteckend bin? Die Fragen sind ähnlich, das Virus ist ein anderes. In den letzten Tagen ist mir aufgefallen: Bei jedem Arzttermin, in jeder Praxis gilt (noch) Maskenpflicht. Aber hinter diesen Masken blicken die Augen oft anders als vor Covid-19. Anstelle von Ruhe, Souveränität und Selbstvertrauen sehe ich bei manchem Arzt die gleiche Angst wie anderswo – die Angst vor dem Patienten.
Diese Angst vor mir als Risikopatient habe ich lediglich einmal erfahren: vonseiten eines älteren Zahnarzts, der mich nervös und verängstigt in einem separaten Zimmer behandeln «musste». Aber sonst hatte ich bis jetzt Glück, HIV war nie ein Ausschlussgrund. Jedoch weiss ich, wie vielen HIV-Positiven es ganz anders ergeht.
Nach dem geheimen Treffen mit meiner Freundin kehre ich in meine leere Wohnung zurück, in der ich die letzten Wochen verbracht habe, und setze mich wieder an die Arbeit. Wie glücklich ich mich schätzen darf, denke ich. Obwohl mir die körperliche Nähe, die Menschen und die Lokale sehr abgehen, macht mir die Isolation keine Angst. Im Gegenteil, sie ist mir vertraut. Klar wird mir langweilig, klar suche ich Wege, mich zu beschäftigen. Aber ich bin nicht in Sorge. Natürlich mache ich mir Gedanken. Wenn ich huste oder wenn ich, immer beim Lesen über Corona, psychosomatische Symptome bekomme. Gedanken über die Gesundheit meiner Mutter und über die Ungewissheit meiner Arbeit und über den wirtschaftlichen Kollaps. Gedanken, die wir alle momentan haben: Wie wird das Ganze ausgehen? Was passiert nachher? Wie geht es weiter?
Meistens kann ich darüber lachen. Aber ich erkenne ein Muster. Ich habe das alles schon mal durchgemacht. Nicht die staatlich angeordnete Quarantäne, das Social Distancing oder die leeren Strassen. Aber ich habe ein emotionales Äquivalent erlebt: in den Jahren kurz nach meiner HIV-Diagnose. Genau so fühlte sich das auch damals an. Emotionale Isolation, persönliches Social Distancing. Infiziert sein, nicht nur mit einem fast unsichtbaren Organismus, sondern auch mit der dazugehörigen Angst. Eigens oktroyierte Quarantäne-Massnahmen. Die Angst, ansteckend zu sein. Und die grosse Verantwortung: Mit meinen Handlungen schütze ich andere.
Mit meinen Medikamenten schütze ich mich und andere – wie heute mit der Maske. Alles spiegelt sich wider. Nach meiner HIV-Diagnose war ich in meinen Kopf eingesperrt, gemeinsam mit einem Rudel von Zweifeln und Ängsten. Knapp zwei lange Jahre hielt dieser Zustand von Bangigkeit und Ungewissheit an. Aber in jener Zeit lernte ich zu begreifen, dass Angst die falsche Haltung war. Klar ist Angst eine natürliche und gesunde Reaktion – aber nur im richtigen Ausmass. Zu viel Angst führt zu Ohnmacht, sie lähmt, macht handlungsunfähig. Damals nahm ich mir ein Beispiel an meinen Ärzten. Um mit so einem perfiden Virus umzugehen, darf man es nicht fürchten, sondern muss es respektieren. Eine Faszination entwickeln, um es kennenlernen zu wollen – in seiner Effizienz, seiner Potenz, seiner weltumspannenden Kraft. Meine Güte, dieses Virus hat die gesamte Welt lahmgelegt!
Auch heute lausche ich den Experten mit Begeisterung. Und diesen Einfluss muss man nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern man muss sich ihm anpassen. An der Macht dieses Virus kommen wir nicht vorbei. Wir tun besser daran, uns mit ihm zu arrangieren. Unsere Ohnmacht akzeptieren.
Insgeheim wünschen wir uns alle, ein Datum zu kennen – den Tag, an dem das Leben wieder «normal» wird. Aber das wird es nicht. Den Tag gibt es nicht. So hatte ich mir damals den Tag X erfleht, den Tag, an dem ich wieder mein «normales» Leben zurückbekommen würde. Ohne Virus, ohne Medikamente, ohne HIV. Zwei Jahre verschwendete ich mit dem Warten auf diesen Tag. Er kam nicht. Trotzdem wird es ein neues normales Leben geben.
Eine schleichende Veränderung des einst Alltäglichen. Einen anderen CoronaNormalzustand. Meine Erfahrungen mit HIV haben mich gelehrt, in einer Symbiose zu leben. Oft scherze ich darüber, dass ich mein kleines, suizidgefährdetes Virus am Leben erhalten muss, sonst bringt es mich und im Zuge dessen auch sich selber um. Dummes kleines Ding. Und so lernte ich, mich auf eine neue Realität, einen neuen Normalzustand einzustellen. Auf regelmässige Blutuntersuchungen, tägliche Medikamente, immer mal wieder Magen-Darm Probleme. Auf medizinische Abhängigkeit. Auf einen kleinen, mühsamen Verlust von Freiheit, an den ich mich gewöhnen musste. Ich möchte nicht grosskotzig daherreden. Es ist mir durchaus bewusst, wie viele Menschen sich gerade in fürchterlichen Situationen befinden. Ich kann mir bei Weitem nicht vorstellen, wie viel Schwieriges manche derzeit durchmachen. Ich habe das Glück, nicht unbedingt in einer existenzbedrohenden Lage zu sein.
Als Freiberufler habe ich mich schon immer durchgebissen, «durchgewurschtelt», wie man in Wien sagt. Irgendwie geht es immer. Täglich sehe ich, wie Zukunftsangst und Freiheitsverlust an der Substanz meiner Freunde und Familie nagen. Wir nehmen uns vor, unsere individuellen Situationen und Wünsche besser aufeinander abzustimmen, mehr Verantwortung wahrzunehmen – gegenüber uns selbst und unseren Mitmenschen. Uns zu fragen: Was bin ich bereit aufzugeben, was nicht? Und wie bringe ich das mit den Bedürfnissen der andern in Einklang? Als ich meine Mutter nach Wochen wieder umarme, beschliessen wir, dass sie sich um ihre Enkelkinder kümmern wird. Die Isolation und das Getrenntsein von ihnen war belastend für sie.
Dafür werde ich bis auf Weiteres auf körperliche Nähe verzichten. Neue Kompromisse sind gefragt, neue Regeln, neue Umgangsformen, zwischenmenschlich sowie gesellschaftlich. Ängste sind allgegenwärtig, bloss werden wir mit ihnen das Virus nicht besiegen. Wir müssen uns alle anpassen. Statt das Virus zu verteufeln oder es wegzuwünschen, müssen wir eine Koexistenz mit ihm finden. Den Einfluss, den es auf unser aller Leben hat, annehmen. Ihm einen Platz, eine Bedeutung geben. Nicht einfach warten, bis «es» vorbeigeht. Wie das gehen soll, weiss ich nicht. Das wird sich weisen. Doch vergessen wir nicht die Wichtigkeit von Menschlichkeit und Berührung. Und behalten wir die Zuversicht, uns bald alle wieder umarmen zu können – ohne Skepsis, ohne Sorge, ohne Misstrauen.