Gestern war
„Gestern war“ habe ich in mein Tagebuch geschrieben. Ich will die letzten Tage rekapitulieren, die Anstrengungen, die Strapazen. Gemeinsam mit meiner Kollegin Andrea bin ich mit einer Indischen Nichtregierungsorganisation in die Dunkelheit des indischen Rotlichtmilieus eingetaucht. Wir haben Razzien begleitet, bei denen Zwangsprostituierte befreit wurden, haben mit Polizeikommandanten, geretteten Frauen und wahren Helden gesprochen.
Jetzt sind wir erschöpft. Die emotionale Achterbahnfahrt will ich festhalten. Niederschreiben. Ich muss Ordnung in diese Reizüberflutung bringen.
Reportage-Fotografie ist meine Leidenschaft, wenngleich sie mir kein Einkommen beschert. Ganz im Gegenteil. Das ganze Jahr halte ich mich als einfacher Fotograf mit Modestrecken und Kongress-Fotografie über Wasser, um mir diese Reisen irgendwie zu finanzieren. Um in eine andere Welt abzutauchen. Um den Komfort des sauberen Wiens verlassen um mich größeren Themen zu widmen – meist ziemlich erfolglos. Aber ich genieße es trotzdem. Mittellos, aber frei. Der Künstler, der Charmeur, der Abenteurer. Ich habe das Image genossen, das ich mir zurechtgelegt hatte – und umso mehr das Dasein als Single und „Womanizer“. Natürlich hat es in der Vergangenheit die eine oder andere längere Beziehung gegeben. Frauen, die bis heute, auch nach der Leidenschaft, zu meinen engsten Freundinnen zählen.
Aber jetzt bin ich Anfang dreißig. Zu sehr der Genießer der Freiheit. Zu süchtig nach dem Flirt und der Ungebundenheit. Die verführerischen Schönheiten der Frauen faszinieren mich in all ihren Formen und Farben. Galerie-Besitzerinnen, Models oder die Anwaltsgehilfin – fast alle erwecken eine Neugier, die ich auskosten will.
Ich verstehe meine Sexualität als einen der wichtigsten Aspekte meiner Freiheit. Eine Freiheit, die mir wichtiger ist als Geld oder Karriere – der zu sein, der ich bin, und meine Sexualität zu verstehen, zu genießen und zu leben. Sie gibt mir schlicht und einfach Selbstvertrauen.
„Gestern war“ habe ich gerade mit dieser Leichtigkeit des Seins geschrieben.
Dann gesellt Andrea sich zum Frühstück zu mir und unterbricht mein Schreiben. Das Satzfragment steht noch heute wie gemeißelt in meinem Tagebuch.
Aufgrund der Strapazen der letzten Tage wollen wir den berühmten Osho-Ashram in Pune besuchen – ein Meditationszentrum für wohlhabende Europäer, das sich mit sexueller Freiheit und Pseudo-Mystizismus brüstet. Zu unverschämten Preisen.
Reportagen über Osho gibt es schon zuhauf, trotzdem denken wir, dass wir vielleicht einen neuen, anderen Aspekt finden. Im schlimmsten Fall meditieren wir und ruhen uns mal ein wenig aus.
Als wir ankommen, zweifele ich stark daran. Der Kontrast zwischen den herumschwebenden „Westlern“ in ihren roten Roben und den indischen Straßenkindern vor den schwarzen Toren aus poliertem Marmor ist mir einfach zu krass.
Zaghaft gehe ich dann doch hinein und fange mit der Anmeldeprozedur an. Und dann sehe ich sie, eine der Betreuerinnen. Lange dunkle Haare, große, leuchtende rehbraune Augen. Eine Perserin, auch sie in einer dieser lächerlichen Roben. Sie schenkt mir ein flirtendes Lächeln. Ich bin verzaubert. Als Teil meiner Charmeoffensive stelle ich mich ein wenig tollpatschig bei der Bedienung des Registrierungs-Computers an.
Wir lachen miteinander und spüren die sexuell aufgeladene Spannung zwischen uns. Mit dem instinktivem Bedürfnis nach Nähe und dem Wunsch, die Gegenwart des Anderen zu spüren, setzt sie sich neben mich. Leichte Berührungen hier und da. Andrea sieht mich an, lacht und rollt mit den Augen.
Um die sexuelle Aura des Ashrams aufrechtzuerhalten, wurden in den 80ern verpflichtende HIV-Tests eingeführt. Jeder Besucher muss einen Schnelltest machen, um eintreten zu dürfen. Ich sah dem eher locker entgegen. Als mein Vater noch am Leben war, hat er als Arzt einmal jährlich einen Bluttest gemacht – HIV inklusive. Nach seinem Tod habe ich mich nicht mehr wirklich darum bemüht.
Ja, ich hatte recht viele Sexualpartnerinnen, aber ich habe mich nie zu einer Risikogruppe gezählt, insbesondere, da ich mit fortschreitendem Alter immer konsequenter mit meinem Kondomgebrauch geworden bin, wenn auch eher aus Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft.
Ungeduldig gehe ich in das Nebenzimmer, lasse mich in den Finger piksen, gebe ein paar Bluttröpfchen auf den Teststreifen und gehe zurück zu den schönen, großen Augen. Andrea ist noch bei der Registrierung, und ich nutzte die Zeit, um mehr über meine neue Muse zu erfahren. Eine Stimme mit starkem holländischem Akzent unterbricht meine flirtende Blödelei.
„Entschuldigung, bist du Philipp?“, fragt eine ältere Dame.
„Ja, ja, das bin ich“, antworte ich ein wenig ungeduldig.
„Könntest du bitte mit mir mitkommen? Es geht um deinen Test.“
„Ja klar“, sage ich und folge ihr in einen riesigen Glaskubus.
Ich drehe mich noch einmal um, schaue der Perserin in die Augen, lächele sie an. Ihr Blick spricht Bände an unausgesprochener Leidenschaft und sexueller Vorfreude. Sie lächelt zurück.
Es wird meine letzte Erinnerung an mein „Vorher“ sein. Und für viele Jahre auch das letzte Mal, dass ich mit jemandem flirte.
Die holländische Frau spuckt ihren Fluch aus: „Dein Test kam positiv zurück.“
Ein Fluch, der jeden Muskel, jeden Gedanken und jede Pore verkrampfen lässt. Ein Fluch, der meine Lungen mit Wasser füllt, meinen Mund austrocknet und mich erstarren lässt.
Ich kann mich nicht bewegen. Meine Hände sind nass vor Schweiß. Meine Augen müssen panisch aufgerissen sein.
In den nächsten Monaten wird mich der erste Gedanke weiter in wellenartiger Regelmäßigkeit einholen: „Das kann nicht wahr sein. Das kann nicht passieren.“
Das Prisma, in dem ich sitze, zerstückelt mich in meine Einzelteile. Ungläubig starre ich die alte Frau an – ich höre sie reden, aber ich höre kein Wort.
Meine Gedanken nehmen Fahrt auf. Panisch rattern tausende Fragen durch meinen Kopf: „Was bedeutet das?“,„Ist mein Leben zu Ende?“, „Werde ich sterben?“, „Kann ich Kinder kriegen?“, „Kann ich Sex haben?“, „Was wird meine Familie sagen?“, „Kann ich das meiner Familie überhaupt sagen?“, „Was soll ich sagen?“, „Wie kann das sein?“, „Wie ist das passiert?“, „Kann das wahr sein?“…
Eine Sintflut an Fragen spült mich fort. Mir wird schlecht. Mein Magen dreht sich. Schockstarre, während ich in die Scheinwerfer des herannahenden Wagens blicke. Todesangst. Ich habe einfach keine Ahnung, was das bedeutet.
Dann fange ich mich. Dank meiner antrainierten Fähigkeit, mich emotional zu distanzieren, setze ich eine provisorische Maske auf. Ich spreche mit ihr, als ob es nicht um mich ginge, nicht um meinen Körper und mein Leben.
Meine journalistische Herangehensweise übernimmt die Situation. Mit zitternder Stimme frage ich, was ich tun kann und wie genau der Test ist. Meine Gedanken verfestigen sich unterdessen zu einem: Recherche.
Die Holländerin sagt, sie würden zwecks Bestätigung noch einmal Blut abnehmen und einen genaueren Test machen. Ich solle in 24 Stunden wiederkommen.
Während sie mich zum Marmor-Ausgang begleitet, sagt sie auch, ich solle lieber keinen Test woanders machen. Ich könnte ausgewiesen werden. Sie beim Ashram würden mich nicht registrieren.
Ich sehe Andrea und sage ihr, dass ich nicht hineindarf. Sie versteht sofort. Andrea lächelt beruhigend und nickt. Ich sage ihr, ich würde sie im Hotel wiedersehen. In diesem Moment entsteht eine Verbindung, die sich zu einer tiefen Freundschaft weiterentwickeln wird.
Ich drehe mich nicht mehr um. Die Perserin ist weg. Ich brauche Antworten. Vor mir liegen die längsten 24 Stunden meines Lebens.
Gestern war.
Der letzte Tag meines bisherigen Lebens.
Die letzten 12 Tage meines bisherigen Lebens
Als Kind der Achtzigerjahre ist mein Wissen über HIV von dieser Zeit geprägt – Freddie Mercury, Philadelphia, Aids und der fürchterliche Anblick dürrer, sichtbar sterbender Menschen. Und irgendwo schüttelte Lady Di deren Hände.
Meine Angst lässt meinen Zorn und meine Ignoranz hochbrodeln. Aids haben andere. Homosexuelle, Drogensüchtige. Ich doch nicht, verdammt noch mal. Die haben sicher einen Fehler gemacht. Ich kann unmöglich positiv sein. Wie auch?
Die nächsten 24 Stunden verbringe ich in furchtbarer Ungewissheit. Während die Zeiger der Uhr sich im Zeitlupentempo drehen, habe ich Hausaufgaben zu erledigen.
Gefragt sind jetzt meine journalistischen Fähigkeiten. Ich muss versuchen, die Furcht, die Ignoranz und die Vorurteile auszublenden, und so viel wie möglich über HIV herausfinden. Tatsachen, die Emotionen ausstechen.
Ich muss alles wissen. Krankheitsverlauf, Symptome, Inkubationszeit. Alle Fakten, die ich seit meiner Jugend verpasst habe. Ich will mir in den nächsten Stunden Expertenwissen aneignen.
Jedoch kommt Angst in Wellen. Immer und immer wieder. So sehr ich sie auch zeitweise vergraben kann, so sehr brodelt sie immer wieder in mir hoch und übermannt mich. Die Ungewissheit, die Panik und die Fragen umschlingen mich immer und immer wieder. Wie werde ich das meiner Familie erzählen? Was werden sie denken? Wie wird mein Leben aussehen?
Ich habe schon in meiner Jugend gelernt, dass das Leben Situationen bereithält, in denen man alleine einfach nicht mehr weiterkommt.
Das hier ist eine solche Situation. Ich muss mich geschlagen geben. Ich weiß, ich brauche Hilfe, und zwar sofort. Ich bin heillos überfordert und nervlich am Ende.
Ich kalkuliere die Zeitdifferenz nach Europa, suche mir zwei Koordinaten und sende mein Notsignal um die halbe Welt.
„Ich war beim Osho-Zentrum, durfte aber nicht rein. Ich bin anscheinend HIV-positiv. Es gibt noch einen Test, den ich zu Hause machen werde. Kannst du kurz reden?“
Mona, meine beste Freundin in Spanien, sowie mein Bruder in den USA sind in den nächsten Minuten die ersten, die auf diese Weise von meiner Diagnose erfahren. Und sie antworten schnell. In dieser langen Nacht halten sie mich über Wasser. Immer wieder bewahren sie mich vor dem Ertrinken in diesem Meer aus Panik, das mich umgibt.
Wir teilen uns die Aufgaben. Sie helfen bei der Recherche. Durchforsten die Informationen deutscher, österreichischer, spanischer und amerikanischer Aidshilfen. Erfassen medizinische Erkenntnisse und geben sie weiter. Ich bin ein Schwamm, der diese Informationen aufsaugt. Begriffe wie ELISA-Test, Viruslast und Nachweisgrenze finden ihren festen Platz in meinem Vokabular.
Ich beschäftige mich mit dem Geschehen kurz nach der Infektion und dem Krankheitsverlauf.
Und dann erinnere ich mich plötzlich.
Vor einigen Wochen hat mich eine Krankheit niedergestreckt. Malariaartige Symptome, Fieberschübe, schweres Atmen und eine körperliche Schwäche, die ich noch nie zuvor erlebt hatte. Das Gefühl, tatsächlich „todkrank“ zu sein. Jede Bewegung fiel mir schwer. Mein Zahnfleisch war geschwollen, schmerzte und blutete. Und niemand wusste, was es war. Niemand dachte an HIV. Sogar mein damaliger Arzt dachte, es wäre Malaria.
Aber jetzt weiß ich es. Das Rätsel ist gelöst. Der Täter gefunden. Das Virus.
Der erste Angriff, der mir die Lebensenergie ausgesaugt und seine ersten Spuren hinterlassen hat.
Der trockene Husten, der nicht weggehen wollte. Das Spannungsgefühl am Solarplexus. Die trockene, rissige Haut. Symptome, die ich auf andere Umstände geschoben hatte, zum Beispiel die verpestete Indische Luft, erscheinen mir plötzlich in neuem Licht.
Die Erinnerung löst eine neue Panikwelle aus – auch weil sie der Diagnose Recht gibt. Auch später empfinde ich Unbehagen, wenn ich an diese Situation zurückdenke aus. So krank will ich nie wieder sein.
Angriffe auf meinen Körper. Verteidigung meines Immunsystems. Aktion und Reaktion. Widerstand gegen den Eindringling. Plötzlich kann ich genau verstehen, was in meinem Körper vor sich geht. Entsetzt und fasziniert zugleich.
Immer wieder kommt Panik auf – und immer wieder besänftigt mich Monas Stimme und wiegt mich über die tausenden Kilometer hinweg in Sicherheit.
Je mehr Informationen ich aufnehme, desto ruhiger werde ich. Obwohl es noch sehr abstrakt und sehr weit weg ist, scheint mir mit HIV ein normales Leben möglich. Ich muss anfangen, mein aus den Achtzigerjahren stammendes Wissen zu überschreiben.
Alles ergibt Sinn. Und im Laufe der Nacht wird mir klar, dass die Diagnose stimmt. Dass auch das zweite Resultat „HIV-positiv“ sein wird.
Erschöpfung macht sich breit. Ich schlafe ein wenig. Während Andrea sich in der Früh zu einem Meditationsseminar aufmacht, bleibe ich im Hotel und rauche gefühlt 200 Zigaretten.
Ich weiß, was kommen wird, will es aber schriftlich haben. Ich schreibe der Aidshilfe in Wien, was passiert ist und dass ich bald kommen werde. Ich will mich auf mein Leben mit HIV vorbereiten.
Erkennen und Akzeptieren sind allerdings zwei sehr unterschiedliche Dinge. Ich weiß es, will es aber nicht wahrhaben. Im Hinterkopf bleibt der Gedanke: „Das stimmt doch alles gar nicht. Zu Hause wird sich das wieder regeln. Zu Hause wird das Resultat „HIV-negativ“ sein. Das alles ist nur ein großes Missverständnis.“
Mein Bauchgefühl sagt mir jedoch was anderes.
Und am Nachmittag hole ich mir die gefürchtete Bestätigung: HIV-positiv.
Die alte Holländerin sagt mir: „Manche Leute leben nach so einer Diagnose ein viel schöneres, bewussteres Leben.“
In Gedanken antworte ich ihr: „Fahr doch zur Hölle.“
Da weiß ich noch nicht, dass sie recht hat.
Die schöne Perserin sehe ich nicht wieder. Jetzt nicht und auch später nicht.
Andrea und ich treffen uns anschließend zum Essen. Es ist ihr erstes Mal in Indien, und sie fürchtet, dass ich jetzt abhauen werde.
Aber ich bleibe. Ich muss bleiben.
Nicht nur, weil ich mich ihr und unseren Reportagen verpflichtet fühle. Sondern auch, weil wir noch zwölf Tage hier haben. Zwölf Tage Arbeit und Abenteuer – zwölf Tage eines Lebens, das ich in Zukunft so vielleicht nicht mehr führen kann.
Es sind die letzten zwölf Tage meines bisherigen Lebens. Wo sich noch nicht alles um HIV drehte. Wo HIV noch weit weg war.
Ich weiß: Sobald ich im winterlichen Wien lande, wird HIV zu meiner neuen Realität. Dann wird es echt. Zu echt.
Einen Aufschub will ich mir noch gönnen.
Andrea und ich machen uns am nächsten Tag auf den Weg zurück nach Mumbai, wo wir wieder die NGO treffen wollen.
Dabei kriecht langsam ein Gedanke in meinen Kopf.
Bei wem habe ich mich eigentlich angesteckt?
Emails die niemand bekommen möchte.
Andrea und ich machen uns zurück an die Arbeit. Wir verbringen unsere Tage in den Slums und Rotlichtbezirken Mumbais. Wir interviewen, fotografieren, portraitieren und konzentrieren uns auf die Projekte. Genau die Ablenkung, die ich brauche.
Meine Nächte sind lang und schlaflos. Panikattacken, Abertausende Fragen, Ängste um die Zukunft kreisen um mich im Rhythmus des quietschenden Deckenventilators. Ich fange an, mir eine Liste zu machen, und durchforste die letzten Monate meines Liebeslebens in meinem Kopf.
Wer war es? Wann war es? Wie kam es dazu?
Ja, ich bin ein Charmeur, ein „Womanizer“. Aber ich halte stets Kontakt mit den Frauen, mit denen ich zusammen war, sei es über Facebook oder ihre Nummern. Ich bin nicht jemand der einfach verschwindet. Sehr oft ergeben sich aus meinen Liebschaften Freundschaften. Sogar sehr enge. Zumindest aber herrscht stets ein respektvoller Umgang – zum Glück. Das macht wenigstens die logistische Arbeit einfacher.
Dank der Recherchearbeit über die Inkubationszeit, den Krankheitsverlauf und die Primär-Infektion kann ich den Zeitrahmen der Infektion in etwa berechnen. Es muss vor circa fünf Monaten gewesen sein. Ein Glück. Eine so frühe Diagnose ist das Beste, was mir in so diesem Fall passieren konnte. Das Virus hat noch wenig Schaden angerichtet – ich kann es bald gut bekämpfen.
Die Liste der Frauen ist bald fertig. Es gibt vier, die ich informieren muss. Vier Frauen, die ich angesteckt haben könnte. Und eine, bei der ich mich angesteckt habe.
Die Angst, eine dieser Frauen angesteckt zu haben, erdrückt mich. Einer der Hauptgründe der schlaflosen Nächte. Dass ich mir das Virus eingefangen habe, damit kann ich noch irgendwie umgehen. Aber dafür verantwortlich zu sein, jemanden angesteckt zu haben, ist ein grausiger Gedanke für mich, der mir den Schlaf raubt. Ich will für diesen Fluch, wie ich es empfinde, nicht verantwortlich sein.
Ein paar Tage gebe ich mir Zeit. Die Angst ist zu groß – ich will die Aufgabe verschleppen und führe viele lange Gespräche mit Andrea. Ich suche Ausreden, es nicht zu tun, aber ich weiß: Ich muss da durch.
Zaghaft schleppe ich mich in das enge, heiße Internetcafé mit den verstörend lauten Ventilatoren. Neben mir skypen Inder laut und fröhlich mit ihren Familien, zocken Videospiele. Und ich sitze vor dem offenen Mailprogramm.
„Das ist die schwierigste Nachricht, die ich jemals geschrieben habe “, fange ich an. Und schreibe. Erkläre. Entschuldige mich tausende Male.
Wann ist ein guter Zeitpunkt für eine E-Mail, die niemand bekommen möchte? Ich füge noch die Öffnungszeiten der jeweiligen Aidshilfen ein. Damit sie alle am nächsten Tag gleich zum Test gehen können. Meine Finger zittern, die Maus schwebt lange über der „Senden“-Schaltfläche.
Und dann verschicke ich den Fluch um die Welt. Worte, die Leben verändern.
Die Warterei fängt wieder von vorne an. Kein Internet im Hotel zu haben, ist vielleicht sogar eine gute Sache. So kann ich nicht alle fünf Minuten nachsehen. Am nächsten Tag habe ich noch keine Antworten. Unsicher, ob die Nachrichten angekommen sind, quetsche ich mich in die sargähnliche Telefonzelle des Internetcafés und rufe an.
Während um mich der chaotische, indische Alltag rauscht, habe ich ruhige, intime und warme Gespräche. Angespannt, ängstlich – aber ruhig. Sie werden es mir morgen sagen können. Zumindest die zwei, die ich erreichen konnte. Auf mein eigenes Resultat warten war eine Sache, aber auf die Resultate der Frauen zu warten, ist noch mal eine Nummer größer. Mein schlechtes Gewissen quält mich die ganze Nacht.
Und dann trudeln die Nachrichten ein.
Negativ.
Und negativ.
Dann kommt eine Nachricht aus Argentinien, die mich überrascht. „Wie kannst du mir so etwas nur sagen? Was fällt dir ein!? Ich habe gerade eine Beziehung angefangen!“
Und dann das dritte „negativ“.
Mit jedem„negativ“ fällt mir der nächste Stein vom Herzen. Überglücklich im Sturm, der mein Leben geworden ist. Ich bin erleichtert – ich habe niemanden angesteckt. Und ich weiß jetzt auch, von wem ich es habe.
Die Wütende. Sie wusste es noch nicht und hat Angst. Sie würde es in ein paar Tagen erfahren. In den nächsten Tagen denke ich oft an die Zeit mit ihr. Das wunderschöne Wochenende in Spanien. Wir hatten schon Jahre zuvor, in Argentinien, eine Romanze. Wie der Zufall es wollte, waren wir zur gleichen Zeit in Madrid– und die Magie von damals war wieder da. Eine intensive sexuelle Verbindung, Leidenschaft und Erotik umhüllten uns. Wir wussten, es wird nur ein Wochenende, verbarrikadierten uns im Hotel und genossen uns gegenseitig. Ja – bei der Penetration benutzte ich natürlich Kondome. Aber Sex ist so viel mehr als das. Während wir eng umschlungen das Wochenende verbrachten, hatte sie auch ihre Regelblutung. Blut war überall. Am Körper, am Penis, am Mund.
Wie ich später erfahren werde, hat sie sich kurz vor unserem Wochenende infiziert – die Viruslast war enorm hoch. Sie war höchst ansteckend.
Nach vielen Jahren kommt mir noch immer der Gedanke: Wenigstens war es ein wunderschönes Wochenende, an dem Leidenschaft herrschte. Und nicht ein dummer One-Night-Stand oder ein sinnloses Tinder-Date.
Ich bin ihr auch heute nicht böse. Zum Sex gehören zwei. Es war schließlich auch meine Entscheidung. Obwohl wir nach diesem Schock noch einige Zeit Kontakt hatten, verflüchtigte sich dieser später. Ich merkte, sie tat sich schwer, mit mir zu reden – im Wissen, dass ich mich bei ihr angesteckt habe.
Die letzten Tage in Indien sind von Traurigkeit überschattet. Andrea und ich beenden unsere Projekte, und ich fange an, mich zu verabschieden. Von dem Leben, das ich bis dahin hatte. Der Mensch, der vor ein paar Wochen hier angekommen ist, bleibt hier. Bei meiner Ankunft in Wien wird mich eine neue Realität willkommen heißen.
Als ich in das Flugzeug steige, weiß ich, dass ich mich meinen Dämonen stellen muss. Den Dämonen, die ich mir selber geschaffen habe.
Nebenwirkungen des Lebens
Der eisige, düstere Wiener Januar spiegelt meinen Zustand wider. Kälte und Dunkelheit umhüllen mich. Ich muss mich auf ein Leben einstellen, das ich nicht wollte. Muss gefühlt tausend Sachen erledigen und Entscheidungen treffen.
Wann sage ich es meinen Freunden? Wie sage ich es meiner Familie? Wann fange ich mit der Therapie an? Wie werden sich die Medikamente auswirken? Werde ich etwas spüren? Werde ich wieder reisen können? Wieder Sex haben?
Jeden Morgen wache ich erschöpft auf und starre in den Abgrund. Ich mache mir To-do-Listen zum Abarbeiten. Gehe einen kleinen Schritt nach dem anderen. Schleppe mich heute zu diesem und morgen zu jenem Arzt. Mache einen Termin mit einen Psychologin.
Und niemand ist da, mit dem ich das teilen kann oder will.
Die Aidshilfe hilft mit dem Organisatorischen, der Bürokratie, gibt medizinische Infos – eine wichtige und bitter nötige Stütze. Trotzdem fühle ich mich alleine. Völlig fehl am Platz.
Im Wartezimmer sehe ich auf die vielen Flyer und Infoblätter. Buddy-Gruppen, Selbsthilfegruppen – alle beworben mit halbnackten, grinsenden Muskelprotzen. Aber wohin gehöre ich? Wo sind die Frauen? Die Hetero-Themen? Der Austausch?
Mein Körper wird zum Objekt. Ich werde gründlich untersucht. Meine Lunge, mein Blut, meine riesig angeschwollenen Lymphknoten. Und dann kommen widerliche Begleiterscheinungen einer HIV-Infektion. Juckender Pilzbefall. Ich widere mich selbst an. Die Augenringe werden dunkler. Mein düsterer Winter wird noch lange dauern.
Als Fotograf muss ich stets ein „Alphatier“ sein. Die Kontrolle übernehmen, Anweisungen geben, selbstbewusst Entscheidungen treffen.
Das fällt jetzt alles flach. Ich bin dazu nicht mehr imstande. Bin zu wenig fokussiert, zu verunsichert und zu abgelenkt.
Eine Abwärtsspirale erfasst mich. Die Qualität meiner Arbeit ist nicht mehr gegeben. HIV dringt in jeden Lebensbereich. Jetzt wird das Virus sogar zur Armutsfalle.
Beim ersten Besuch einer dieser Selbsthilfegruppen schaudert es mich. Gemeinsames Kochen ist angesagt. Ich blickte in traurige Augen, die traurig Gemüse schneiden, um eine traurige Spaghetti-Soße zu machen.
Mir geht es noch schlechter als davor. Als mir einer der Männer von seinem All-Inclusive-Kluburlaub erzählt, ergreife ich die Flucht. Noch nie habe ich mich derart fehl am Platz gefühlt.
„Da gehöre ich nicht hin!“, schreit es in meinem Kopf. „Das bin ich nicht. Ich bin nicht das Virus. Ich werde das doch nicht zulassen? So darf meine Zukunft nicht aussehen!“
Und wieder ergreife ich die Initiative. Ich muss aus diesem Teufelskreis raus. Ein Schritt nach dem anderen – aber diesmal im Angriffsmodus.
Ich setze mir das erste Ziel: Die Viruslast soll unter die Nachweisgrenze. Ich will mich nicht mehr ansteckend sein. Wieder Sex haben können. Und mir das Wissen aneignen, um meinen Freunden von der Infektion zu erzählen – mitsamt den ganzen Infos, wie die Therapie funktioniert und wie sie wirkt. Ihnen zeigen, wie gut ich mich auskenne, und dass ich keine Angst habe.
Das heißt: Therapiestart. Eine Pille am Tag. Für den Rest meines Lebens. Eine Pille, die mir das Leben schenkt. Mich sicher macht. Ein erschreckender Gedanke.
Ich schreibe einen Abschiedsbrief an mein medikamentenfreies Leben. Mit Angst vor Nebenwirkungen schluckte ich die erste Pille – sechs Wochen nach meiner Diagnose.
Die Nebenwirkungen kommen nicht. Ich bin in den Kampf gezogen, um meine Verteidigungslinie gegen das Virus zu ziehen und zu halten. Hierher und nicht weiter.
Und es geht schnell. Die Nachweisgrenze ist in wenigen Wochen erreicht. Das Virus ist unter meiner Kontrolle – zumindest medizinisch.
Der erste Erfolg motiviert mich. Gibt mir wieder ein klein wenig Selbstvertrauen und Hoffnung. Die Kraft, mich meinen Freunden und meiner Familie zu öffnen – und sie um Hilfe zu bitten.
Im Laufe der nächsten Wochen sehe ich in Dutzende Augen. Der Blick, der mich trifft, wenn ich von meiner HIV-Infektion erzähle, ist von Angst, Schock und Unwissen geprägt. Ich fühle mich wie ein Botschafter von Tod und Verderben. Und jedes Mal muss ich selbst ruhig bleiben, um alles zu erklären. Die Ansteckung, die Therapie, die nächsten Schritte. Ein erschöpfender Parcours der Emotionen.
Aber sie sind da. Alle. Sie behandeln mich nicht anders als sonst. Das Faszinierende ist: Wenn ich HIV nicht mehr erwähne, existiert es einfach nicht mehr. Meine Freunde und sogar meine Schwester vergessen es immer wieder.
Ich mache den nächsten Anlauf zum Besuch einer Selbsthilfegruppe. Ich beobachte die Männer und Frauen, die vom Leben gezeichnet hineingehen. Und muss an mein Glück denken. Meine Freunde, meine Familie. Ich habe einen Rückhalt, den diese Menschen hier wahrscheinlich nicht haben. Und gehöre tatsächlich nicht dazu.
Ich drehe mich um und gehe nach Hause.
Die nächsten Wochen werden zu Monaten, zu Jahren.
Ich lebe vor mich hin. Im Konflikt und in der Neuausrichtung. In meiner Neugründung. Werde psychologisch betreut, ziehe mich zurück. Lebe einsam. Gehe gelegentlich aus, habe gelegentlich Dates, trinke viel Alkohol. Bin auf der Suche nach mir. Versuche, meine Sexualität wiederzufinden. Bin wütend auf Frauen, wütend auf mich. Wütend auf die Welt.
Frust und Ärger werden Teil von mir. Ich balanciere am Abgrund zur Verzweiflung und Depression, spiele mit dem Feuer.
Doch dies ist keine Auseinandersetzung mit HIV, sondern mit mir selbst und mit allem, was ich bis dahin gewesen bin.
Langsam kriecht der wichtigste Gedanke in meinen Kopf: Es ist trotzdem meine Entscheidung. Ich kann entscheiden, wie ich die nächsten 40 Jahre leben werde. Verbittert? Einsam? Als Opfer? Oder nehme ich die Zügel selbst in die Hand? Stehe ich zu mir, zu dem, wer ich bin?
Ich bin schließlich nicht krank. Ich trage ein Virus in mir, aber ich bin gesund. Gesünder als viele anderen.
Langsam ist der Horizont in Sicht. Langsam kommt eine Aufbruchsstimmung in mir hoch.
Und dann ruft mich Mona an. Meine Exfreundin, meine beste Freundin. Zusammengeschweißt mit mir, seit sie vor zwei Jahren der Rettungsanker in der Nacht nach meiner Diagnose war.
Mona ist schwanger. Und der Vater des Kindes will abhauen.
So schnell, wie er weg ist, so schnell packe ich meine Sachen und gehe zu ihr nach Spanien.
Die nächsten Monate leben wir in einer umfunktionierten Garage ihres Vaters leben. Schlafen neben Auto und Werzeug.
Sie ermutigt mich, wieder auszugehen, Frauen kennenzulernen und das Leben zu genießen. Ich helfe ihr mit dem Schwangerschafts-Prozedere.
Wir lernen mit- und voneinander. Ich sehe, wie tapfer sie ihre Aufgabe antritt, ihr Kind allein großzuziehen. Sie inspiriert mich. Und ich schäme mich für mein mürrisches Opferdasein. Mein verletztes Ego.
Jetzt ist mir endgültig klar: Es ist meine Entscheidung, mich dem Leben mit HIV zu stellen. „Get busy living, or get busy dying.“
Die alte Holländerin vom Osho-Zentrum fällt mir wieder ein. Tatsächlich. Sie hatte recht.
Als ich Monas Kind ein paar Stunden nach der Geburt in den Armen halte, fängt für uns alle ein neues Kapitel an. Wie es auch kommen mag, es wird alles gut werden.
Ich fühle mich demütig, glücklich und befreit von den Ängsten, die mich so lange verfolgt haben. Das Leben hat mich wieder.
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