Wie HIV mein Sexleben verbessert hat – NEON.de (GER)

Vom 28.04.2018

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Wie HIV mein Sexleben verbessert hat.

Es gibt Wortkombinationen, die neue Welten öffnen. Wie Zaubersprüche können sie mit ein paar Silben das ganze Leben verändern. Und als die Holländerin in Indien mir sagte “Dein Test kam zwei Mal positiv zurück”, öffnete sich meine kleine Büchse der Pandora.

Ich war HIV-positiv. Angst machte sich breit. Eine schwarze, klebrige Substanz, die sich langsam in allen Ecken meines Lebens breitmachen würde. Sie tränkte mich in Furcht, Wut, Panik und Dunkelheit.

In den Folgemonaten war ich umhüllt von ihr. Sie würde mein altes Leben vergraben. Das alte Leben – der abenteuerliche Fotograf, der von märchenhaften Orten erzählte, von außergewöhnlichen Reportagen. Der “Womanizer”. Ein Künstler, der mit Poesie die Frauen verzauberte und sich niemals binden wollte. Immer umtriebig, aber nie unehrlich. Ich sagte von vornherein immer klar, dass ich keine Beziehung wollte. Ich war verrückt nach Frauen und Sexualität war einer meiner Hauptquellen für Spaß und Glück.

Diese glücklichen, verschwitzten und wilden Zeiten waren mit einem Schlag vorbei.

Jetzt herrschten in meinem Leben nur noch zwei Emotionen. HIV bedeutet Angst und Zweifel.
Angst und Zweifel. Angst und Zweifel.
Eine Kombination aus zwei toxischen Begriffen, die ein gesamtes Leben langsam zersetzen. Noch viel schlimmer als das Virus.

Die ersten Monate verbrachte ich in Einsamkeit. Die medizinischen Aspekte hatten Priorität – ich musste das Virus kennenlernen. Seine Stärken, seine Schwächen sowie alle Waffen, die ich zur Verfügung hatte. Nachweisgrenze, Wirkstoffe der Medikamente und Wechselwirkungen gaben mir einen Einblick in eine neue, klinische Welt. Aber auch Sicherheit. Ich fing meine Therapie an.

Laut Medizin war ich sicher.
Laut Medizin war ich nicht mehr ansteckend.
Laut Medizin war die Viruslast gedrückt.
Laut Medizin war ich sauber.

Laut mir war ich giftig.

Ich stand plötzlich alleine da. In Galerien, in Bars und Klubs. Hinter einer Mauer aus Verunsicherung. Angespannte Blicke, angespannte Muskeln und angespannte Gedanken dominierten meine Körpersprache. Steif. Ängstlich. Schüchtern und melancholisch trauerte ich den Frauen aus der Ferne nach – ihren eleganten Bewegungen, ihrer Anmut, ihren Gerüchen. Sie waren so nah und gleichzeitig so unglaublich weit weg. Wieder würde ich, Kopf gesenkt, einsam nach Hause gehen. In schmerzender Sehnsucht nach meinem früheren Leben – in dem ich sauber war.

Die Angst hatte mich fest im Griff, dieses Gefühl, toxisch zu sein. Meine Scham und mein Selbst-Hass bestimmten mein Handeln. Das war nicht mehr die Angst vor Bindung oder die Angst vor einer intimen Beziehung. Plötzlich assoziierte ich Sex und Intimität mit Panik. Mit Gefahr. Mit Gift. Ich hatte ein Sex-Trauma.

Ich dachte oft an die Frau, die mich angesteckt hatte. An das Wochenende. An das Pech. Dass wir Kondome benutzt hatten – bei der Penetration. Aber da sie ihre Regel hatte, war ihr Blut überall. Blut am Penis, im Mund. Vielleicht offene Kratzer oder Verletzungen. Sie wusste nichts von ihrem Status. Der war ganz neu. Nur ein paar Wochen alt – wenn der Virus am ansteckendsten ist.

Ich wurde bitter. Ich verfluchte die Welt. Ich verfluchte die Frauen, zu denen ich aus Verunsicherung keinen Zugang mehr fand. Ich suchte die Schuld bei den Frauen. Bei allen anderen. Das Finger-Zeigen ist schließlich die einfachste Antwort.

Mich quälte weiterhin mein Wunsch nach Leidenschaft, nach Sex und Intimität. Früher wollte ich Frauen befriedigen. Ich wollte sie zum Kommen und zum Lachen bringen. Lange leidenschaftlich lecken. Spüren und riechen. Aber das zählte nicht mehr. Das hatte für mich keine Bedeutung mehr. Plötzlich war mein Zugang ganz anders. Die Befriedigung der Frau war mir scheißegal.

Mein Erfolg bei Frauen war dementsprechend eingeschränkt. Genauso wie mein Durchhaltevermögen. Das lag zwischen ein paar Sekunden und ein paar Sekunden mehr, bevor mein un-infektiöses Sperma sich auf den Weg ins Kondom machte. Selbstverständlich passierte das nie nüchtern. Alkohol war mein Weg zum Mut.

Ich war müde, wütend und traurig. Und einsam. Meine Sexualität war mit meiner Zufriedenheit tief in der Erde vergraben.

So konnte ich nicht weitermachen. Mir wurde bewusst, dass es nach wie vor meine Entscheidung ist. Will ich ein Opfer der Umstände sein? Oder will ich mich den Umständen stellen? Das Ruder wieder selber in die Hand nehmen? Kämpfen.

Ich war damals 34. Ich bin gesund. Ich trage zwar einen Virus – der ist aber unter meiner Kontrolle, dank der Medikation. Ich werde wohl noch weitere 40 Jahre leben… Wie sollen diese Jahre aussehen? Das ist, trotz aller Umstände, immerhin meine Entscheidung.

Um aus meinem depressiven Zyklus aus Angst und Zweifel auszubrechen, suchte ich neue Ufer. Ich packte meine Sachen, zog in die Garage meiner besten, schwangeren Freundin und begleitete sie auf ihrer Reise. Sie bereitete sich auf ihren Kampf als alleinerziehende Mutter vor.

Eine schwanger mit Kind, verunsichert über das Single-Mutter Dasein.

Einer schwanger mit Virus, verunsichert, ob er sich verzeihen könnte.

Gemeinsam schwanger mit Ängsten einer unsicheren Zukunft.

Widerwillig entstaubte ich die Kiste, in der ich alte Eigenschaften verschlossen hatte – die Leidenschaft, die Freude und die Sexualität. Eben alles, was ich für meine Infektion verantwortlich gemacht hatte.

Und während ich die werdende Mutter beim bürokratischen Hürdenlauf unterstützte, motivierte sich mich, wieder ins Leben zurückzukehren. Ich schrieb wieder. Ich las wieder. Ich setzte mich wieder mit Kunst und dem Künstler-Leben auseinander. Und vor allem mit meinem Angst-Thema: der Sexualität. Ich las über Tantra-Übungen, über Ausdauer-Methoden und über mein Lieblingsthema: Oralverkehr.

Ich suchte die schonungslose Auseinandersetzung mit mir selber. Ein kalter, ehrlicher Bick auf mich. Je mehr ich mich meinen Ängsten stellte, desto mehr realisierte ich die endlosen Möglichkeiten, die ich hatte. Die klebrige Masse der Unzufriedenheit schmolz langsam – und unter ihr befand sich wieder Schönheit. Ich spürte wieder einen Puls.

Ich erinnerte mich wieder an Sachen, die ich ausgeblendet hatte. An die Zeit vor HIV. An den Spaß am Sex. Den Spaß am flirten, lachen und verzaubern. Ohne Wut. Ohne Hass. Ohne Aggression. Aber mit Zärtlichkeit, Finesse und Genuss.

Leidenschaftlich. Offen. Ehrlich.

Als ich mir die Verantwortung, die meine beste Freundin tragen musste, ansah, und im Gegenzug meine, spürte ich plötzlich den Kontrast. Ich schämte mich für mein Verhalten. Da war diese tapfere Frau, die bald allein ein Kind bekommen würde. Stolz und selbstbewusst nahm sie ihre neue Verantwortung wahr. Und ich versteckte mich hinter meinen Aggressionen und meinem verletztem Ego. Aber natürlich verstand sie. Sie sah meine Veränderung. Sie ermutigte mich, auszugehen – zu erforschen, Frauen kennenzulernen, mich wieder ins Leben zu stürzen. Und ich folgte ihrem Rat.

Anstatt die Hässlichkeit zu sehen, sah ich plötzlich überall das Schöne. Ich verliebte mich jeden Tag aufs Neue, ich konnte mich gar nicht oft genug umdrehen, um all die Schönheit in mich aufzunehmen. Meine Augen lachten wieder – und die Frauen lachten zurück. Laut und ehrlich. Ich lernte, wieder über mich selbst zu lachen. Mich nicht so ernst zu nehmen. Flirten fiel mir plötzlich wieder leicht. Fast zu leicht. Und mit diesem wiederentdeckten Herzschlag verabschiedete sich der Fluch, den HIV über mich gebracht hatte.

Bald verbrachte ich meine Sonntage unter weißen Decken mit einer spanischen Schönheit. Verschwitzte Körper umschlungen. Lachend und stöhnend. Oft ohne Penetration. Sex ist ja bekanntlich das Langweiligste am Sex.

In Demut. Und Dankbarkeit. Dass ich das wieder erleben durfte.

Das hat mir HIV gegeben: Ein Bewusstsein für die Schönheit des Lebens und der Sexualität. Eine wiedergewonnene Freiheit. Die Entscheidung, diese Freiheit wahrzunehmen. Eine neue Wertschätzung, die ich von nun an bei jeder intimen Begegnung aufs Neue spüre. Mir erlaubt diese Erkenntnis, mich auf meine Partnerinnen einzulassen und zu verschmelzen – auf unausgesprochene “Jas” und “Neins” mit meinem Körper zu antworten, auf ihre Signale, ihren Rhythmus und ihren Takt. Im tantrischen Blindflug.

HIV hat mir zwei Jahre meines Lebens geraubt. Es hat mir aber auch eine Möglichkeit gegeben, mich mit meinen Wünschen und meinem Selbst auseinanderzusetzen. Auf eine Art und Weise, die ich sonst nicht erlebt hätte. Ich weiß jetzt, wer ich sein will und wer nicht.

Ich hätte Opfer sein können. Einsam, bitter, unzufrieden. Aber ich wollte es nicht. Ich traf die bewusste Entscheidung, zu leben. Glücklich zu sein. Mit dem Herzen zu lachen. Dem Virus seinen Platz zu geben – nicht mehr und nicht weniger. HIV ist meine “Superpower” geworden. Für die ich die Verwantwortung trage.

Ich kontrolliere den Virus, und nicht er mich.

Ich bin wieder frei.